Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Zahlen und gelangte, nachdem er oben eine Dränage durchgemacht hatte, in eine zweite Phase, in der er zum Geruchsphilosophen und (später) zu einem ausgezeichneten Spürhund wurde? In einer kleinen verlassenen Hütte, eingequetscht unter der Leiche von Ayooba Baloch, erfuhr er da nicht die Bedeutung von fair und unfair? Na also – gefangen in der okkulten Gefahr des Korbes der Unsichtbarkeit, wurde ich nicht nur durch das Glitzern eines Spucknapfes gerettet, sondern auch durch eine weitere Verwandlung: als mich diese schreckliche, wesenlose Einsamkeit, die nach Friedhöfen roch, in der Gewalt hatte, entdeckte ich den Zorn.
Etwas in Saleem verging, und etwas Neues wurde geboren. Es verging: ein alter Stolz auf Babyschnappschüsse und gerahmte Nehru-Briefe; eine alte Entschlossenheit, bereitwillig eine prophezeite historische Rolle zu übernehmen, und auch eine Bereitwilligkeit, Zugeständnisse zu machen, zu verstehen, wieso ihn Eltern und Fremde wegen seiner Hässlichkeit verachten oder verbannen durften; verstümmelte Finger und Mönchstonsuren schienen nicht länger ausreichend als Entschuldigung für die Art, in der er, ich behandelt worden war. Mein Zorn galt im Grunde allem, was ich bis dahin blind akzeptiert hatte: dem Ansinnen meiner Eltern, ich möge ihnen das, was sie in mich investiert hatten, zurückerstatten, indem ich bedeutend und genial wurde; selbst die Verknüpfungsmodi
erweckten eine blinde, unbändige Wut in mir. Warum ich? Warum musste gerade ich infolge von Zufällen, die sich bei meiner Geburt ereigneten, Prophezeiungen et cetera für Sprachenkrawalle und wer-kommt-nach-Nehru verantwortlich sein, für Pfefferstreuerrevolutionen und Bomben, die meine Familie auslöschten? Warum sollte ich, Saleem Rotznase, Schnüffler, Kartengesicht, Scheibe-vom-Mond, die Schuld für das auf mich nehmen, wasnicht-getan-wurde von den pakistanischen Soldaten in Dacca? ... Warum sollte ich als Einzige von all den über fünfhundert Millionen die Bürde der Geschichte tragen?
Was meine Entdeckung der Unfairness (die nach Zwiebeln roch) begonnen hatte, führte mein unsichtbarer Zorn zu Ende. Der Zorn befähigte mich, die sanften Sirenenversuchungen der Unsichtbarkeit zu überleben; der Zorn trieb mich, nachdem ich im Schatten einer Freitagsmoschee wieder aus der Versenkung aufgetaucht war, zu dem Entschluss, von diesem Augenblick an meine eigene, nicht schon im Voraus festgelegte Zukunft zu bestimmen. Und dort, in der Stille der nach Friedhof riechenden Isolation, hörte ich die einstige Stimme der jungfräulichen Mary Pereira, die sang:
Alles, was du sein willst, kannst du sein,
Du kannst sein, was immer du willst.
Als ich mir heute Abend meine Wut ins Gedächtnis rufe, bleibe ich vollkommen ruhig; die Witwe hat mir, zusammen mit allem anderen, auch meinen Zorn weggenommen. Während ich mich meiner im Korb entstandenen Rebellion gegen die Unvermeidlichkeit erinnere, gestatte ich mir sogar ein gequältes, verständnisvolles Lächeln. «Jungen», murmele ich über die Jahre hinweg dem vierundzwanzigjährigen Saleem zu, «sind eben jungen.» In der Herberge der Witwen wurde mir ein für alle Mal die grausame Lektion beigebracht: Es gibt kein Entkommen; nun, da ich über Papier gebeugt im Lichtkegel einer Schwenklampe sitze, will ich nichts mehr sein
außer dem, was wer ich bin. Wer was bin ich? Meine Antwort: Ich bin die Summe all dessen, was vor mir geschah, all dessen, was unter meinen Augen getan wurde, all dessen, was mir angetan wurde. Ich bin jeder Mensch und jedes Ding, dessen Dasein das meine beeinflusste oder von meinem beeinflusst wurde. Ich bin alles, was geschieht, nachdem ich nicht mehr bin, und was nicht geschähe, wenn ich nicht gekommen wäre. Auch bin ich in dieser Hinsicht nicht besonders außergewöhnlich; jedes «ich», jeder der mittlerweile-sechshundert-Millionen-so-und-so-viele, enthält eine ähnliche Vielzahl. Ich wiederhole zum letzten Mal: Um mich zu verstehen, müssen Sie eine Welt schlucken. Freilich werde ich nun, da alles, was-in-mir-war, sich fast ganz ergossen hat, nun, da die Risse sich in mir weiten – ich kann das Reißen Fetzen Knirschen hören und fühlen -, langsam dünner, beinahe durchsichtig; es ist nicht mehr viel von mir übrig, und bald wird gar nichts mehr da sein. Sechshundert Millionen Staubkörnchen, und alle durchsichtig, unsichtbar wie Glas ...
Aber damals war ich zornig. Drüsenüberfunktion in einer Weidenamphore: apokrine und endokrine Drüsen verströmten
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