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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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lassen, dass meine Schwerelosigkeit etwas anderes gewesen sein konnte als ein Trick.
    «Hör mal, Baby Sahib!», rief Picture Singh. «Was sagst du dazu, Baby Hauptmann? Muss ich dich über die Schulter legen, damit du ein Bäuerchen machst?» – Und nun sagte Parvati nachsichtig: «Ach der da, Baba, macht immer Witze-Blitze.» Sie lächelte jeden der Umstehenden strahlend an ... doch dann folgte ein Unheil verkündendes Ereignis. Eine Frauenstimme im Rücken des Magierhaufens begann zu klagen: «Ai-o-ai-o! Ai-o-o!» Überrascht teilte sich die Menge, und eine alte Frau stürmte hervor und auf Saleem zu; ich musste mich gegen eine geschwungene Bratpfanne verteidigen, bis Picture Singh sie erschreckt am pfannenschwenkenden Arm packte und brüllte: «He, Capteena, was soll der Lärm?» Und die alte Frau jammerte stur: «Ai-o-ai-o!»
    «Resham Bibi», sagte Parvati böse. «Was ist dir über die Leber gelaufen?» Und Picture Singh: «Wir haben Besuch, Capteena – was soll er bloß von deinem Geschrei halten? Arre, sei still, Resham, unsere Parvati kennt diesen Hauptmann persönlich! Führ bloß nicht so ein Geschrei vor ihm auf.»
    «Ai-o-ai-o! Das Unglück ist über uns hereingebrochen! Ihr fahrt in fremde Länder und bringt es mit! Ai-oooo!»
    Verstörte Magiergesichter starrten von Resham Bibi zu mir – denn obwohl sie Menschen waren, die das Übernatürliche leugneten, waren sie Künstler und glaubten wie alle Artisten blind an Glück und Unglück ... «Du hast selber gesagt», klagte Resham Bibi, «dass dieser Mann zweimal geboren ist und noch nicht einmal von einer Frau! Nun kommt Zerstörung, Pest und Tod. Ich bin alt, und deshalb weiß ich es. Arré Baba», wandte sie sich bittend an mich, «habt Mitleid, geht jetzt – geht schnell!» Ein Murmeln wurde laut –«Es ist wahr, Resham Bibi kennt die alten Geschichten» -, aber dann
wurde Picture Singh zornig. «Der Hauptmann ist mein Ehrengast», sagte er. «Er bleibt in meiner Hütte, solange er will, ob kurz oder lang. Was redet ihr denn alle? Das hier ist nicht der Ort, wo man Ammenmärchen erzählen kann.»
    Saleem Sinai verweilte zunächst nur ein paar Tage im Magiergetto, aber in dieser kurzen Zeit ereigneten sich einige Dinge, die die durch Ai-o-ai-o erweckten Ängste beschwichtigten. Die lautere, ungeschminkte Wahrheit ist, dass die Gettoillusionisten und andere Artisten in jenen Tagen begannen, sich zu neuen Gipfelleistungen aufzuschwingen. Balancekünstlern gelang es, mit eintausendundeinem Ball gleichzeitig zu jonglieren, und die noch nicht ausgebildete Schutzbefohlene eines Fakirs geriet auf ein Bett glühender Kohlen und spazierte dann so unbekümmert darauf herum, als habe sie die Talente ihres Mentors durch Osmose übernommen; man erzählte mir, dass der Seiltrick erfolgreich ausgeführt worden sei. Auch fiel die monatliche Polizeirazzia im Getto aus, was seit Menschengedenken nicht mehr vorgekommen war, und das Lager erlebte einen nicht abreißenden Besucherstrom, die Diener der Reichen, die um die Dienstleistungen eines oder mehrerer Koloniebewohner für die Unterhaltung bei diesem oder jenem Galaabend nachsuchten ... es sah in der Tat so aus, als habe Resham Bibi die Dinge falsch verstanden, und ich wurde im Getto rasch sehr beliebt. Ich wurde Saleem Kismeti, Lucky Saleem tituliert; man gratulierte Parvati, weil sie mich in den Slum gebracht hatte. Und schließlich brachte Picture Singh Resham Bibi zu mir, damit sie sich entschuldigte.
    «’tschuldigung», sagte Resham zahnlos und floh; Picture Singh fügte hinzu: «Es ist schwer für die Alten; ihr Geist wird verwirrt, und sie erinnern sich verkehrt. Hauptmann, hier sagt jeder, dass du uns Glück gebracht hast, aber wirst du uns bald verlassen?» – Und Parvati starrte mich dumpf mit untertassengroßen Augen an, die bettelten, nein nein nein; aber ich war gezwungen, mit «Ja» zu antworten.
    Saleem ist sich heute sicher, dass er «Ja» antwortete, dass er am
selben Morgen, immer noch in das formlose Gewand gekleidet, immer noch seinen unzertrennlichen silbernen Spucknapf festhaltend, fortging, ohne sich nach einem Mädchen umzudrehen, das ihm mit anklagend feuchten Augen nachsah, dass er hastig vorbeilief an übenden Jongleuren und Ständen mit Süßigkeiten, die seine Nase mit den Versuchungen von Rasgullas erfüllten, vorbei an Barbieren, die eine Rasur für zehn Paisa offerierten, am tatterigen Gefasel alter Weiber und dem amerikanisch eingefärbten Gezeter von Schuhputzern, die

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