Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Busladungen voll japanischer Touristen in identischen blauen Anzügen und unpassenden safrangelben Turbanen, die ihnen unterwürfig boshafte Fremdenführer um die Köpfe gewickelt hatten, bedrängten, vorbei an der hoch aufragenden Treppe zur Freitagsmoschee, an Verkäufern von Kurzwaren und Itr-Essenzen und Gipsabgüssen vom Qutb Minar und bemalten Spielzeugpferden und umherflatternden, zum Schlachten bestimmten Hühnern, vorbei an Plakaten, die zum Hahnenkampf einluden, und an Kartenspielern mit ausdruckslosem Blick – und schließlich aus dem Getto der Illusionisten auftauchte und sich plötzlich auf dem Faiz-Basar befand, gegenüber den sich unendlich erstreckenden Mauern eines Roten Forts, von dessen Wällen herab ein Ministerpräsident einst die Unabhängigkeit verkündet hatte und in dessen Schatten eine Frau einst von einem Guckkastenmann, einem Dilli-dekho-Mann, empfangen worden war, der sie in die enger werdenden Gassen geführt hatte, auf dass sie hörte, wie die Zukunft ihres Sohnes inmitten von Mungos und Geiern und invaliden Männern, deren Arme mit Blättern bandagiert waren, prophezeit wurde. Von dort wandte er sich, kurz gesagt, nach rechts und ging von der Altstadt auf die rosenfarbenen Paläste zu, die vor langer Zeit von rosahäutigen Eroberern erbaut worden waren: ich ließ meine Retter im Stich und ging zu Fuß nach Neu-Delhi.
Warum? Warum verschmähte ich Undankbarer den sehnsüchtigen Kummer Parvatis-der-Hexe, wandte mein Gesicht vom Alten ab und wanderte zum Neuen hin? Warum verließ ich sie an jenem
Morgen so leichthin, da ich doch bei den nächtlichen Kongressen meines Geistes so viele Jahre lang in ihr meine treueste Verbündete gehabt hatte? Wenn ich mich durch die von Rissen verursachten Ausfälle kämpfe, kann ich mich an zwei Gründe erinnern, kann aber nicht sagen, welcher der ausschlaggebende war oder ob ein dritter ... zunächst einmal hatte ich auf jeden Fall Bilanz gezogen. Saleem blieb, als er über seine Aussichten nachdachte, nichts anderes übrig, als sich einzugestehen, dass sie nicht gut waren. Ich hatte keinen Pass, war dem Gesetz zufolge ein illegaler Einwanderer (nachdem ich einst ein legaler Auswanderer gewesen war); überall warteten Kriegsgefangenenlager auf mich. Selbst wenn ich meinen Status als besiegter entflohener Soldat außer Acht ließ, war die Liste meiner Nachteile immer noch beträchtlich lang: Ich hatte weder Geld noch Kleider zum Wechseln, noch irgendwelche Qualifikationen — weder hatte ich mein Studium beendet noch mich in dem, was ich davon mitbekommen hatte, irgendwie hervorgetan; wie sollte ich mich an mein ehrgeiziges Projekt machen, die Nation zu retten, ohne ein Dach über dem Kopf oder eine Familie zu haben, die mich schützte stützte förderte ... Da durchzuckte es mich wie der Blitz, dass ich irrte, dass ich hier, ausgerechnet in dieser Stadt, Verwandte hatte – und nicht nur irgendwelche Verwandte, sondern auch noch einflussreiche! Meinen Onkel Mustapha Aziz, einen hohen Beamten, der, als ich das letzte Mal von ihm hörte, in seinem Ministerium die Nummer zwei gewesen war; welch besseren Schutzherrn für meine messianischen Ambitionen gab es als ihn? Unter seinem Dach konnte ich sowohl Kontakte als auch neue Kleider bekommen; unter seiner Schirmherrschaft würde ich mir eine gehobene Stellung in der Verwaltung suchen und beim Studium der administrativen Praxis sicherlich den Schlüssel zum nationalen Heil finden, und Minister würden mir ihr Ohr leihen, mit den Großen würde ich mich vielleicht duzen ...! Von diesen hochfliegenden Träumen besessen, teilte ich Parvati-der-Hexe mit: «Ich muss weg, große Dinge stehen bevor!» Und als ich an ihren
plötzlich glühenden Wangen erkannte, dass sie verletzt war, tröstete ich sie: «Ich komme und besuche dich oft. Sehr oft.» Aber das war kein Trost für sie ... Hochherzigkeit war also ein Beweggrund dafür, die, die mir geholfen hatten, zu verlassen; aber gab es nicht auch etwas Gemeineres, Niedrigeres, Persönlicheres? Es gab etwas. Parvati hatte mich einmal heimlich hinter einen Schuppen aus Blech und Kistenholz gezogen; wo Kakerlaken ihre Eier legten, wo Ratten sich liebten, wo Fliegen sich an Straßenköterscheiße mästeten, umklammerte sie mein Handgelenk und bekam glühende Augen und eine zischende Zunge; verborgen im fauligen Bauch des Gettos gestand sie, dass ich nicht das erste der Mitternachtskinder sei, das ihr über den Weg gelaufen war! Und nun folgte eine Geschichte von
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