Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
die ich nach unserer Heirat aus ihr herausbekam. Es scheint, mein Erzrivale gab gern mit seinen Heldentaten vor ihr an, deshalb sollten Sie vielleicht berücksichtigen, dass bei solchen Prahlereien die Wahrheit gern entstellt wird; freilich gibt es keinen Grund für die Annahme, dass das, was er Parvati erzählte und was sie mir weitergab, von den Tatsachen sehr weit entfernt war.
Als der Krieg im Osten beendet war, raunte man sich in den Straßen der Städte die Legenden von Shivas fürchterlichen Heldentaten zu, sie gelangten in Blitzesschnelle in Zeitungen und Zeitschriften und schmuggelten sich auf diese Weise in die Salons der Wohlhabenden ein, wo sie sich in Wolken, dicht wie Fliegenschwärme, auf den Ohren der Gastgeberinnen niederließen, sodass sich Shiva auf einmal sowohl hinsichtlich des gesellschaftlichen Status als auch des militärischen Rangs befördert sah und zu tausendundeiner Veranstaltung eingeladen wurde – zu Banketten, musikalischen Soireen, Bridgepartys, diplomatischen Empfängen, parteipolitischen Konferenzen, großen Melas und auch kleineren, lokalpatriotischen Feiern, Schulsportfesten und eleganten Bällen -, wo er von den Edelsten und Schönsten im ganzen Land beklatscht und mit Beschlag belegt wurde, um die die Sagen von seinen Heldentaten wie Fliegen schwärmten, die über ihre Augäpfel krochen, sodass sie den jungen Mann durch den Schleier seiner Legende sahen; die ihre Fingerspitzen bedeckten, sodass sie ihn durch den magischen Film seines Mythos berührten; die sich auf ihren Zungen niederließen, sodass sie nicht zu ihm sprechen konnten wie zu einem gewöhnlichen sterblichen Wesen. Die indische Armee, die zu jener Zeit eine politische Schlacht gegen vorgesehene Kürzungen des Etats kämpfte, begriff den Wert eines so charismatischen Botschafters und gestattete dem Helden den Verkehr mit seinen einflussreichen Bewunderern; Shiva gab sich seinem neuen Leben mit Leib und Seele hin.
Er ließ sich einen üppigen Schnurrbart wachsen, auf den sein Bursche jeden Tag eine Pomade aus Leinsamenöl, gewürzt mit
Koriander, auftrug; er vertiefte sich, immer elegant ausstaffiert, in den Salons der Mächtigen in politische Plaudereien und bekannte sich als standhaften Bewunderer Frau Gandhis, hauptsächlich aus Hass auf ihren Widersacher Morarji Desai, der unerträglich alt war, seinen eigenen Urin trank, eine Haut hatte, die wie Reispapier raschelte, und einst als Chefminister von Bombay für das Verbot von Alkohol und die gerichtliche Verfolgung junger Goondas, das heißt von Rowdys oder Unterweltlern oder, in anderen Worten, des Kindes Shiva in Person, verantwortlich war ... aber solch müßiges Geplauder beanspruchte nur einen Bruchteil seiner Gedanken, der Rest wurde von den Damen in Anspruch genommen. Auch Shiva stiegen viel zu viele Frauen zu Kopf, und er erwarb sich in jenen berauschenden Tagen nach dem Sieg einen heimlichen Ruf, der (so prahlte er vor Parvati) rasch seinem offiziellen öffentlichen Ruhm Konkurrenz machte – eine «schwarze» Legende, die sich neben der «weißen» sehen lassen konnte. Was wurde bei den Damengesellschaften und den Kanastaabenden im ganzen Land geflüstert? Was wurde kichernd gezischelt, wo immer zwei oder drei glitzernde Damen zusammenkamen? Dies: Major Shiva wurde immer mehr zu einem notorischen Verführer, zu einem Frauenhelden, einem, der reichen Männern Hörner aufsetzte, kurzum: zu einem Sexprotz.
Frauen gab es – so erzählte er Parvati —, wo immer er hinging: Ihre kurvenreichen, vogelweichen Körper erzitterten unter dem Gewicht ihres Schmucks und ihrer Begierde, ihre Augen verschleierten sich, wenn sie von seiner Legende hörten, es wäre schwer gewesen, sie zurückzuweisen, selbst wenn er es gewollt hätte. Mitfühlend lauschte er ihren kleinen Tragödien – impotente Ehemänner, Schläge, mangelnde Zuwendung —, jedweder Entschuldigung, die die herrlichen Geschöpfe vorzubringen wünschten. Wie meine Großmutter an ihrer Tankstelle (aber aus finstereren Motiven) lauschte er geduldig, wenn sie von ihren Kümmernissen erzählten; er schlürfte Whisky in der von Kronleuchtern bestrahlten Pracht von Ballsälen und sah zu, wie sie mit den Lidern flatterten und viel sagend den
Atem anhielten und seufzten; und zum Schluss schafften sie es immer, ein Handtäschchen fallen zu lassen oder ein Getränk zu verschütten oder ihm das Offiziersstäbchen aus der Hand zu schlagen, sodass er sich bücken musste, um wiederzuholen, was gefallen war,
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