Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Stück vom ... habt Mitleid mit mir: Ich habe sogar meinen Spucknapf verloren. Aber schon wieder begehe ich einen Fehler. Ich hatte nicht vor, euch um Mitleid zu bitten, ich wollte sagen, dass ich vielleicht sehe – ich war es, nicht ihr, der nicht begriffen hat, was geschieht. Wir, die wir keine fünf Minuten reden konnten, ohne uneins zu sein, wir, die als Kinder stritten uns entzweiten uns misstrauten uns trennten, sind plötzlich beisammen, zu einem vereinigt! O wundersame Ironie: Die Witwe, die uns herbrachte, um uns das Kreuz zu brechen, hat uns in Wahrheit zusammengebracht! O die Paranoia von Tyrannen, die von selbst Wirklichkeit wird ... denn was können sie uns anhaben, nun, da wir alle auf derselben Seite stehen, da es keine Sprachstreitigkeiten, keine religiösen Vorurteile mehr gibt: Schließlich sind wir nun neunundzwanzig, und ich sollte euch nicht Kinder nennen ... Ja, hier ist Optimismus wie eine Krankheit: Eines Tages muss sie uns hinauslassen, und dann wartet ab, und ihr werdet’s erleben, vielleicht sollten wir, ich weiß nicht, eine neue politische Partei gründen, ja, die Mitternachtspartei, welche Chance hat Politik gegen Menschen, die Fische vermehren und unedle Metalle in Gold verwandeln können? Kinder, hier in dieser dunklen Zeit unserer Gefangenschaft wird etwas geboren. Sollen Witwen ihr Schlimmstes tun, Einigkeit ist Unbesiegbarkeit! Kinder: wir haben gewonnen!
Es schmerzt zu sehr. Optimismus, der wie eine Rose im Misthaufen wuchs: Es tut mir weh, daran zurückzudenken. Genug: Ich vergesse den Rest. – Nein! – Nein, sehr wohl, ich erinnere mich ... Was ist schlimmer als Stangen Fesseln Kerzen auf der Haut? Was übertrifft Nägelausreißen und Aushungern? Ich verrate den besten, raffiniertesten Scherz der Witwe: Anstatt uns zu foltern, machte sie
uns Hoffnungen. Das bedeutete, sie hatte etwas – nein, mehr als etwas: das Beste von allem! – zum Wegnehmen. Und nun, sehr bald schon, muss ich beschreiben, wie sie es abschnitt.
Ektomie (aus dem Griechischen, vermutlich): das Herausschneiden. Die medizinische Wissenschaft fügt dem eine Reihe von Vorsilben hinzu, Appendektomie Tonsillektomie Mastektomie Tubektomie Vasektomie Testektomie Hysterektomie. Saleem möchte diesem Katalog von Exzisionen gern noch umsonst, gratis und kostenlos einen weiteren Artikel spenden; es ist jedoch ein Terminus, der eigentlich in die Geschichte gehört, auch wenn die Medizin damit zu tun hatte, zu tun hat: Sperektomie: das Herausschneiden von Hoffnung.
Am Neujahrstag bekam ich Besuch. Eine Tür quietschte, teurer Chiffon raschelte. Das Muster: grün und schwarz. Ihre Brille grün, ihre Schuhe schwarz so schwarz ... In Zeitungsartikeln ist diese Frau «ein prachtvolles Mädchen mit breiten, wiegenden Hüften» genannt worden, «das ein Schmuckgeschäft geführt hatte, bevor es sich der Sozialarbeit widmete ... Während des Notstands war sie in halboffizieller Stellung für Sterilisation zuständig.» Ich aber habe meinen eigenen Namen für sie: sie war die Hand der Witwe. Die eins nach dem anderen Kinder mmmff und reißt und kleine Bälle fliegen ... grünschwarz segelte sie in meine Zelle. Kinder: Es geht los. Haltet euch bereit, Kinder. Gemeinsam sind wir stark. Lasst die Hand der Witwe die Arbeit der Witwe tun, aber danach, danach ... denkt an später. Das Jetzt verträgt es nicht, dass man darüber nachdenkt ... und sie sanft, vernünftig: «Im Grunde, seht ihr, ist alles eine Frage Gottes.»
(Hört ihr zu, Kinder? Gebt es weiter.)
«Die Menschen Indiens», erklärte die Hand der Witwe, «verehren unsere Gute Frau wie einen Gott. Inder können nur einen einzigen Gott verehren.»
Aber ich wuchs in Bombay auf, wo Schiwa Wischnu Ganesch
Ahuramasda Allah und zahllose andere ihre Herden hatten ... «Was ist mit dem Pantheon», argumentierte ich, «was mit den dreihundertdreißig Millionen Göttern, die es allein schon im Hinduismus gibt? Und mit dem Islam und den Bodhisattvas ...» Und nun die Antwort: «Ach ja, mein Gott, Millionen Götter, Sie haben Recht! Aber alle sind Manifestationen desselben OM. Sie sind Moslem: Wissen Sie, was OM ist? Sehr gut. Für die Massen ist unsere Gute Frau eine Manifestation des OM.»
Wir sind vierhundertzwanzig; bloße 0,00007 Prozent der sechshundert Millionen zählenden Bevölkerung Indiens. Statistisch unbedeutend; selbst wenn man uns als Teil der verhafteten dreißig (oder zweihundertfünfzig) Tausend betrachtete, stellten wir bloße 1,4 (oder
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