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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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liefern, was er versprach, und alles in seinen Kasten zu stecken. (Das erinnert mich plötzlich an Nadir Khans Freund, den Maler: Ist das eine indische Krankheit, der Drang, die ganze Wirklichkeit in eine Kapsel zu schließen? Schlimmer: Bin auch ich angesteckt?)
    In dem Guckkasten Lifafa Das’ waren Bilder vom Tadsch Mahal und vom Meenakshi-Tempel und vom heiligen Ganges, aber der Guckkasten-Mann hatte neben diesen berühmten Ansichten den Drang verspürt, auch zeitgenössischere Bilder aufzunehmen – Stafford Cripps verlässt Nehrus Residenz; Unberührbare werden berührt; gebildete Menschen schlafen in großer Zahl auf Eisenbahnschienen; ein Reklamefoto einer europäischen Schauspielerin mit einem Berg Früchte auf dem Kopf – Lifafa nannte sie Carmen Veranda; sogar ein auf Pappe aufgezogenes Zeitungsfoto von einem Brand im Industriegebiet. Lifafa Das hielt nichts davon, seine Zuschauerschaft vor den nicht immer angenehmen Zügen des Zeitalters zu schützen ... und oft, wenn er in diese Gassen kam, erschienen Erwachsene genauso gut wie Kinder, um zu sehen, was es in seinem Kasten auf Rädern Neues gab, und zu seinen beständigsten Kunden gehörte Begum Amina Sinai.
    Aber heute liegt etwas Hysterisches in der Luft, etwas Sprödes und Bedrohliches hat sich auf dem Muhalla niedergelassen, während die Wolke der verbrannten India-Räder darüber hängt ... und nun gerät es außer Rand und Band, als dieses Mädchen mit seiner
durchgehenden Augenbraue zetert und mit einer Unschuld, die es nicht besitzt, lispelt: «Ich ssuerst! Weg da ... lasst mich ssehen! Ich kann nichts ssehen !» Denn es sind schon Augen an dem Loch in dem Kasten, es sind schon Kinder in die Bilderfolge versunken, und Lifafa Das sagt (ohne seine Arbeit zu unterbrechen – er dreht stur weiter an dem Knopf, der die Postkarten in dem Kasten in Bewegung hält): «Ein paar Minuten noch, Bibi, jeder kommt an die Reihe, warte nur.» Worauf die Zwergenkönigin mit der einen Augenbraue antwortet: «Nein! Nein! Ich will die Erste ssein!» Lifafa hört auf zu lächeln – wird unsichtbar – zuckt die Achseln. Unbändige Wut erscheint auf dem Gesicht der Zwergenkönigin. Und nun steigt ein Affront auf, eine tödlich-böse Bemerkung zittert auf ihren Lippen. «Du hast Nerven, in diesen Muhalla zu kommen! Ich kenne dich: mein Vater kennt dich: jeder weiß, dass du ein Hindu bist!!»
    Lifafa Das steht schweigend da und dreht den Griff seines Kastens, aber nun singt die Walküre mit Pferdeschwanz und einer Augenbraue und zeigt mit Patschfingern, und die Jungen in ihrer weißen Schulkleidung mit Schlangenschnallen fallen ein: «Hindu! Hindu! Hindu!»
    Und Bambusjalousien fliegen hoch, und der Vater des Mädchens lehnt sich aus dem Fenster und fällt in den Chor ein, stößt Beschimpfungen gegen ein neues Ziel aus, und der Bengale fällt auf Bengali ein ... «Muttervergewaltiger! Schänder unserer Töchter! »... und vergessen Sie nicht, dass in den Zeitungen von Angriffen auf moslemische Kinder gesprochen wurde, sodass plötzlich eine Stimme aufschreit – eine Frauenstimme, vielleicht sogar die der dummen Zohra: «Vergewaltiger! Arré, mein Gott, sie haben den Badmaash gefunden! Hier ist er!» Und jetzt ergreifen der Wahnsinn der Wolke, die wie ein in eine bestimmte Richtung zeigender Finger aussieht, und die ganze aus den Fugen geratene Unwirklichkeit der Zeit den Muhalla, und von jedem Fenster hallen die Schreie wider, und die Schuljungen haben zu singen begonnen: «Verge-waltiger!
Verge-waltiger! Vergeverge-verge-waltiger!», ohne richtig zu wissen, was sie sagen; die Kinder sind vor Lifafa Das zurückgewichen, und auch er hat sich bewegt, zieht seinen Kasten auf Rädern weiter und versucht wegzukommen, aber nun ist er von blutrünstigen Stimmen umgeben, und die Müßiggänger bewegen sich auf ihn zu, Männer steigen von Fahrrädern ab, ein Gefäß fliegt durch die Luft und zerbricht an einer Mauer neben ihm; er steht mit dem Rücken gegen einen Türeingang, als ein Kerl mit einer fettigen Haartolle ihn süßlich angrinst und sagt: «So, Mister: Sie sind das also? Mister Hindu, der unsere Töchter entehrt? Mister Götzenanbeter, der mit seiner Schwester schläft?» Und Lifafa Das: «Nein, um Himmels willen ...», lächelt wie ein Idiot ... und dann geht die Tür hinter ihm auf, und er fällt nach hinten und landet in einem dunklen kühlen Korridor neben meiner Mutter Amina Sinai.
     
    Sie hatte den Morgen allein mit der kichernden Zohra und dem

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