Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
hinduistischen Mythologie entliehen, hatte nicht verschleiern können, dass die Firma in moslemischem Besitz war. Von Erleichterung durchflutet, atmeten Vater Kemal Butt eine Luft, die von durch Brandstiftung verbrannten Fahrrädern erfüllt war, husteten und spuckten, als der Qualm von zu Asche verbrannten Rädern, die in Luft aufgelösten Geister von Ketten, Klingeln, Satteltaschen, Lenkstangen, die Rahmen von Arjuna-India-Rädern in anderer Erscheinungsform in ihre Lungen ein- und wieder hinauszogen. Eine primitive Maske aus Pappkarton war an einen Telegraphenmast vor dem brennenden Godown genagelt – eine Maske mit vielen Gesichtern – eine Teufelsmaske mit fauchenden Gesichtern und breiten, sich kräuselnden Lippen und leuchtend roten Nüstern. Die Gesichter des vielköpfigen Ungeheuers Ravana, des Königs der Dämonen, sahen böse auf die Körper der Nachtwächter hinab, die so fest schliefen, dass niemand, weder die Feuerwehrleute noch Kemal, noch Butt, noch mein Vater, das Herz hatte, sie zu stören; und die ganze Zeit fiel vom Himmel die Asche von Pedalen und Schläuchen auf sie nieder.
«Verdammt üble Geschichte», sagte Herr Kemal. Er hatte kein Mitleid. Er kritisierte die Besitzer der Arjuna-India-Rad-Gesellschaft. Seht: die Wolke des Unglücks (das auch eine Erlösung ist) steigt auf und zieht sich am blassen Morgenhimmel wie ein Ball zusammen. Seht, wie sie sich nach Westen ins Herz der Altstadt drängt, wie sie, wie ein Finger, gütiger Gott, hinunterzeigt auf den moslemischen Muhalla am Chandni Chowk! ... Wo gerade in diesem Augenblick Lifafa Das seine Artikel direkt in der Gasse der Sinais anbietet. «Kommt, seht alles, seht die ganze Welt, kommt seht!»
Beinah ist es Zeit für die öffentliche Ankündigung. Ich will nicht verleugnen, dass ich aufgeregt bin: Schon zu lange lungere ich im Hintergrund meiner eigenen Geschichte, und obwohl es noch ein Weilchen dauert, ehe ich sie übernehmen kann, ist es nett, einmal einen Blick hineinzuwerfen. Höchst erwartungsvoll folge ich also dem zeigenden Finger im Himmel und sehe auf das Viertel meiner Eltern hinab, auf Straßenverkäufer, die geröstete Pferdebohnen in zusammengedrehtem Papier feilbieten, auf die Hüfte an Hüfte, Hand in Hand dastehenden Faulenzer auf den Straßen, auf herumfliegende Papierschnitzel und kleine geballte Wirbelwinde von Fliegen, die um die Stände mit Süßigkeiten schwärmen ... alles verkürzt durch meinen Blick von hoch oben im Himmel. Und Kinder sind da, ebenfalls in Scharen, durch das magische Rattern von Lifafa Das’ Dugdugeetrommel und seine Stimme auf die Straße gelockt.«Dunya dekho», seht die ganze Welt! Jungen ohne Höschen, Mädchen ohne Hemdchen und andere, schickere Kinder in weißer Schulkleidung, deren Shorts von Elastikgürteln mit S-förmigen Schlangenschnallen festgehalten werden, fette kleine Jungen mit plumpen Fingern, alle scharen sich um den schwarzen Kasten auf Rädern, einschließlich dieses einen Mädchens, eines Mädchens mit einer langen haarigen durchgehenden Augenbraue, die beide Augen überschattet, die achtjährige Tochter dieses unhöflichen Sindi, der bereits jetzt schon die Flagge des noch fiktiven Landes Pakistan auf seinem Dach hisst, der selbst jetzt seinen Nachbarn beschimpft, während seine Tochter mit ihrem Chavanni in der Hand auf die Straße hinausstürzt. Sie hat den Ausdruck einer Zwergenkönigin, und Mord lauert hinter ihren Lippen. Wie heißt sie? Ich weiß es nicht; aber ich kenne diese Augenbrauen.
Lifafa Das: der durch einen unglücklichen Zufall seinen schwarzen Guckkasten vor einer Wand aufgestellt hat, auf die jemand eine Swastika geschmiert hat (in diesen Tagen sah man sie überall; die extremistische RSSS-Partei malte sie auf jede Wand; nicht das seitenverkehrte Hakenkreuz der Nazis, sondern das alte Hindu-Symbol
für Macht. Svasti bedeutet auf Sanskrit «gut».) ... dieser Lifafa Das, dessen Ankunft ich so laut verkündet habe, war ein junger Kerl, der unsichtbar war, bis er lächelte und schön wurde oder bis er seine Trommel schlug und für Kinder unwiderstehlich wurde. Dugdugeemänner: Überall in Indien rufen sie: «Dilli dekho», kommt seht Delhi! Aber dies war Delhi, und Lifafa Das hatte seinen Ruf entsprechend abgeändert: «Seht die ganze Welt, kommt seht alles!» Die übertreibende Formel begann sich nach einiger Zeit in seinem Verstand festzusetzen; immer mehr Ansichtskarten wanderten in seinen Guckkasten, während er verzweifelt versuchte, zu
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