Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
sondern weil sie versuchten, nicht zu laufen. «Lassen Sie sich keine Panik anmerken», sagte Herr Kemal. «Geben Sie sich ruhig.» Aber immer wieder
gerieten ihnen die Füße außer Kontrolle und hasteten weiter. Ruckweise, in kleinen Geschwindigkeitsschüben, gefolgt von einigen schlecht disziplinierten Schritten in ruhiger Gangart, verließen sie den Muhalla und kamen auf ihrem Weg an einem jungen Mann mit einem schwarzen Metallguckkasten auf Rädern vorbei, einem Mann mit einer Dugdugeetrommel: Lifafa Das, unterwegs zum Schauplatz der wichtigen Ankündigung, die dieser Episode ihren Namen gibt. Lifafa Das rührte seine Trommel und rief: «Kommt, seht alles, kommt, seht alles, kommt und seht! Kommt, seht Delhi, kommt, seht Indien, kommt seht! Kommt seht, kommt seht!» Aber Ahmed Sinai hatte anderes zu sehen.
Die Kinder des Muhallas hatten eigene Namen für die meisten der dort Wohnenden. Eine Gruppe von drei Nachbarn war als die «Kampfhähne» bekannt, weil hier die Häuser eines Mannes aus Sind und eines aus Bengalen durch einen der wenigen Hindu-Haushalte des Muhallas getrennt waren. Der Sindi und der Bengale hatten sehr wenig gemeinsam – sie sprachen weder dieselbe Sprache, noch kochten sie das gleiche Essen, aber sie waren beide Moslems, und sie verabscheuten beide den dazwischengepferchten Hindu. Sie warfen von ihren Dächern Abfall auf sein Haus. Sie stießen aus ihren Fenstern vielsprachige Beschimpfungen gegen ihn aus. Sie schleuderten Fleischfetzen vor seine Tür ... während er wiederum Straßenjungen bezahlte, damit sie Steine in ihre Fenster warfen, Steine, um die Botschaften gewickelt waren: «Wartet ab», besagten die Botschaften, «ihr kommt auch noch an die Reihe» ... Die Kinder des Muhallas nannten meinen Vater nicht bei seinem richtigen Namen. Sie kannten ihn als den «Mann, der seiner Nase nicht folgen kann».
Ahmed Sinai war Besitzer eines so untauglichen Orientierungssinns, dass er, sich selbst überlassen, sich sogar in den gewundenen Gassen seiner eigenen Nachbarschaft verlaufen konnte. Oft hatten die Straßenkinder ihn hilflos in den Gassen umherwandernd angetroffen
und eine Vier-Anna-Chavanni-Münze angeboten bekommen, damit sie ihn nach Hause begleiteten. Ich erwähne das, weil ich glaube, dass die Gabe meines Vaters, die falsche Abzweigung zu nehmen, ihn nicht bloß sein ganzes Leben lang bedrückte, sondern auch ein Grund dafür war, dass er sich zu Amina Sinai hingezogen fühlte (denn sie hatte dank Nadir Khan bewiesen, dass auch sie die falsche Abzweigung nehmen konnte); und darüber hinaus floß seine Unfähigkeit, der eigenen Nase zu folgen, in mich ein, trübte in gewissem Maße das nasale Erbe, das ich von anderer Seite erhielt, und machte mich jahrelang unfähig, meinen eigenen wahren Weg zu erschnüffeln ... Aber das reicht erst einmal, denn ich habe den drei Geschäftsleuten genug Zeit gegeben, das Industriegebiet zu erreichen. Ich werde nur hinzufügen, dass mein Vater (meiner Meinung nach als direkte Folge seines mangelnden Orientierungssinns) ein Mann war, über dem selbst in Augenblicken des Triumphes der Gestank zukünftigen Versagens hing, der Geruch einer falschen Abzweigung gleich hinter der nächsten Ecke, ein Aroma, das auch durch sein ständiges Baden nicht weggewaschen werden konnte. Herr Kemal, der es roch, sagte im Vertrauen zu S. P. Butt: «Diese Typen aus Kaschmir, alter Knabe: altbekannte Tatsache, dass sie sich nie waschen.» Diese Verleumdung verbindet meinen Vater mit dem Fährmann Tai ... mit Tai in den Klauen der selbstzerstörerischen Wut, die ihn das Saubersein aufgeben ließ.
Im Industriegebiet schliefen Nachtwächter friedlich weiter, hörten nichts vom Lärm der Feuerwehrwagen. Warum? Wie? Weil sie ein Abkommen mit dem Ravana-Gesindel geschlossen hatten und, vor dem bevorstehenden Eintreffen der Bande rechtzeitig gewarnt, einen Schlaftrunk nahmen und ihre Flechtbetten aus den Gebäuden des Areals wegtrugen. Auf diese Weise vermied die Bande Gewalttätigkeit und besserten die Nachtwächter ihr mageres Einkommen auf. Es war eine gütliche und nicht unintelligente Abmachung.
Zwischen den schlafenden Nachtwächtern sahen Herr Kemal, mein Vater und S. P. Butt zu, wie verbrannte Fahrräder in schweren
schwarzen Wolken in den Himmel aufstiegen. Butt Vater Kemal standen neben den Feuerwehrwagen, und Erleichterung durchströmte sie, denn was da brannte, war der Godown von Arjuna-India-Rad – der Firmenname Arjuna, einem Helden der
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