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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Nachhall des Namens Ravana verbracht, ohne zu wissen, was dort draußen im Industriegebiet geschah. Sie hatte dem Gedanken nachgehangen, dass die ganze Welt verrückt zu werden schien, und als das Geschrei anfing und Zohra – ehe sie aufgehalten werden konnte – einfiel, verhärtete sich etwas in ihr, irgendeine Erkenntnis, dass sie die Tochter ihres Vaters war, irgendeine geisterhafte Erinnerung an Nadir Khan, der sich vor sichelförmigen Messern in einem Kornfeld verbarg, irgendeine Reizung ihrer Geruchswege, und sie ging nach unten, ihn zu retten, obwohl Zohra kreischte: «Was machst du, Schwesterchen, diese irre Bestie, um Gottes willen, lass ihn nicht hier herein, bist du übergeschnappt?» ... Meine Mutter öffnete die Tür, und Lifafa Das fiel herein.
    Stellen Sie sie sich vor: an diesem Morgen, ein dunkler Schatten zwischen dem Mob und seinem Opfer, ihr Leib berstend über seinem unsichtbaren, ungenannten Geheimnis. «Wah, wah», applaudierte sie der Menge, «was für Helden! Helden, ich schwör’s, aber wirklich! Nur fünfzig von euch gegen dieses schreckliche Ungeheuer
von einem Kerl! Bei Allah, meine Augen glänzen vor Stolz, wenn ich euch so ansehe.»
    ... Und Zohra: «Komm zurück, Schwesterchen!» Und die fettige Tolle: «Warum verteidigen Sie diesen Goonda, Begum Sahiba? Das ist nicht recht gehandelt.» Und Amina: «Ich kenne diesen Mann. Er ist ein anständiger Mensch. Geht, verschwindet, habt ihr denn alle nichts zu tun? In einem moslemischen Muhalla würdet ihr einen Menschen in Stücke reißen?! Los, packt euch!» Aber der Mob ist nicht länger überrascht und bewegt sich wieder nach vorn ... und jetzt. Jetzt kommt es.
    «Hört zu», rief meine Mutter, «hört gut zu! Ich trage ein Kind. Ich bin eine Mutter, die ein Kind haben wird, und ich biete diesem Mann meinen Schutz. Kommt jetzt, wenn ihr töten wollt, tötet auch eine Mutter und zeigt der Welt, was ihr für Männer seid!»
    Und so geschah es, dass meine Ankunft – das Kommen Saleem Sinais – den versammelten Volksmassen verkündet wurde, bevor mein Vater davon erfahren hatte. Vom Augenblick meiner Empfängnis an, scheint es, bin ich öffentliches Eigentum gewesen.
    Aber obwohl meine Mutter Recht hatte, als sie ihre öffentliche Ankündigung machte, hatte sie auch Unrecht. Dies ist der Grund: Das Kind, das sie trug, erwies sich nicht als ihr Sohn.
     
    Meine Mutter kam nach Delhi, machte sich daran, ihren Ehemann beharrlich zu lieben, wurde von Zohra und Khichri und trappelnden Füßen daran gehindert, ihrem Mann ihre Neuigkeit mitzuteilen, hörte Schreie, machte eine öffentliche Ankündigung. Und es funktionierte. Meine Verkündigung rettete ein Leben.
    Nachdem die Menge sich zerstreut hatte, ging der alte Musa, der Hausdiener, auf die Straße und rettete Lifafa Das’ Guckkasten, während Amina dem jungen Mann mit dem schönen Lächeln ein Glas frisches Limonenwasser nach dem anderen gab. Es schien, als habe sein Erlebnis ihm nicht nur Flüssigkeit, sondern auch Süße entzogen, denn er tat vier Löffel Rohzucker in jedes Glas, während Zohra
in anmutigem Schrecken auf einem Sofa kauerte. Und schließlich sagte Lifafa Das (dem durch Limonenwasser wieder Flüssigkeit und durch Zucker Süße zugeführt worden war): «Begum Sahiba, Sie sind eine große Dame. Wenn Sie erlauben, segne ich Ihr Haus und auch Ihr ungeborenes Kind. Aber ich werde auch – bitte gestatten Sie es – noch etwas anderes für Sie tun.»
    «Danke schön», sagte meine Mutter, «aber Sie müssen gar nichts tun.» Doch er fuhr fort (mit der Süße des Zuckers auf seiner Zunge):«Mein Vetter, Shri Ramram Seth, ist ein großer Seher, Begum Sahiba. Handleser, Astrologe, Wahrsager. Bitte kommen Sie zu ihm, und er wird Ihnen die Zukunft Ihres Sohnes offenbaren.»
    Wahrsager hatten mich prophezeit ... im Januar 1947 wurde meiner Mutter dafür, dass sie ein Leben geschenkt hatte, eine Prophezeiung zum Geschenk gemacht. Und trotz Zohras: «Es ist Wahnsinn, mit dem zu gehen, Amina Schwester, denk nicht eine Sekunde lang darüber nach. In diesen Zeiten muss man vorsichtig sein»; trotz der Erinnerung an die Skepsis ihres Vaters und seinen Daumenundzeigefinger um das Ohr eines Maulvis rührte das Angebot meine Mutter an einer Stelle, die Ja antwortete. Eingeholt von dem unlogischen Wunder ihrer nagelneuen Mutterschaft, deren sie sich gerade erst sicher geworden war, sagte sie: «Ja, Lifafa Das, bitte treffen Sie mich in ein paar Tagen am Tor zum Roten Fort. Dann

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