Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
oder?»
«Hör doch auf, du hast keine Ahnung.»
«Aber Joseph, selbst wenn das stimmt mit dem Töten, es sind doch bloß Hindus und Moslems: Warum willst du gute Christen in ihren Streit hineinziehen? Die bringen sich doch schon seit ewigen Zeiten um.»
«Du und dein Christus. Geht es dir denn nicht in den Kopf, dass das die Religion der Weißen ist? Überlass die weißen Götter den weißen Menschen. Gerade jetzt sterben unsere eigenen Leute. Wir müssen zurückschlagen, den Leuten zeigen, wen sie bekämpfen müssen, anstatt sich gegenseitig umzubringen, kapiert?»
Und Mary: «Deshalb habe ich nach der Farbe gefragt, Vater ... und ich habe Joseph gesagt, immer wieder gesagt: Kämpfen ist schlecht, gib dich nicht mit diesen verrückten Ideen ab. Aber dann hat er aufgehört, mit mir zu reden, und angefangen, mit gefährlichen Typen herumzuhängen, und es tauchen Gerüchte über ihn auf, Vater, dass er angeblich Backsteine auf dicke Autos schmeißt und auch Flaschen verbrennt. Er wird verrückt, Vater, man sagt, er hilft Busse verbrennen und Straßenbahnen in die Luft jagen und ich weiß nicht was noch alles. Was soll ich machen, Vater, ich habe meiner Schwester von alldem erzählt. Meiner Schwester Alice, einem wirklich anständigen Mädchen, Vater. Ich hab’ gesagt: Dieser Joe, er wohnt in der Nähe vom Schlachthaus, vielleicht ist ihm der Geruch in die Nase gestiegen und hat ihn benebelt. Alice ist also zu ihm hingegangen. Ich lege ein Wort für dich ein, sagt sie, aber dann, o Gott, was geschieht mit der Welt ... ich sag’ Ihnen ehrlich, Vater ... O Baba ...» Und ihre Worte gehen in den Fluten unter, ihre Geheimnisse entströmen salzig ihren Augen, denn Alice kam zurück und erklärte, ihrer Meinung nach sei Mary an allem schuld, weil sie Joseph so lange mit einem Redeschwall überschüttet habe, bis er nichts mehr von ihr wissen wollte, anstatt ihn in seinem patriotischen Anliegen, das Volk wachzurütteln, zu unterstützen. Alice war jünger als Mary und hübscher, und danach gab es noch mehr Gerüchte, Alice-und-Joseph-Geschichten, und Mary wusste sich nicht mehr zu helfen.
«Die», sagte Mary, «was weiß die schon von der ganzen Politik? Bloß um sich meinen Joseph zu krallen, wird sie jeden Unsinn wiederholen, den er von sich gibt, wie ein Beo. Ich schwöre, Vater ...»
«Vorsicht, Tochter. Lästere nicht Gott ...»
«Nein, Vater. Ich schwöre zu Gott, ich weiß nicht, was ich nicht alles tun werde, um diesen Mann wiederzukriegen. Ja: obwohl er ... egal, was er ... ai-o-ai-ooo!»
Salzwasser wäscht den Boden des Beichtstuhls ... und ergibt sich hier nun ein neues Dilemma für den jungen Pater? Wägt er, trotz der Qualen eines verdorbenen Magens, auf unsichtbaren Waagschalen die Unverletzlichkeit des Beichtstuhls gegen die Gefahr ab, die ein Mann wie Joseph D’Costa für die zivilisierte Gesellschaft darstellt? Wird er Mary tatsächlich nach Josephs Adresse fragen und dann verraten ... Kurzum, würde dieser bischofgeplagte, magenkrampfgeschüttelte junge Pater sich so wie Montgomery Clift in I Confess oder anders verhalten haben? (Als ich den Film vor ein paar Jahren im New-Empire-Kino sah, konnte ich die Frage nicht beantworten.) – Aber nein, schon wieder muss ich meine grundlosen Verdächtigungen unterdrücken. Was mit Joseph geschah, wäre wahrscheinlich so oder so geschehen. Und aller Wahrscheinlichkeit nach liegt die einzige Bedeutung des jungen Paters für meine Geschichte darin, dass er der erste Außenstehende war, der von Joseph D’Costas bitterem Hass auf die Reichen und von Mary Pereiras verzweifeltem Kummer erfuhr.
Morgen werde ich ein Bad nehmen und mich rasieren; ich werde eine nagelneue Kurta, gestärkt und glänzend, und dazu passende Pajamas anziehen. Ich werde mit Spiegelchen verzierte Pantoffeln tragen, die sich an den Zehen nach oben krümmen, mein Haar wird ordentlich gebürstet sein (wenn auch nicht in der Mitte gescheitelt), meine Zähne werden strahlen ... in einem Wort: Ich werde bestens aussehen. («Gott sei Dank», sagt die schmollende Padma.)
Morgen wird endlich ein Ende mit den Geschichten sein, die ich (weil ich bei ihrer Geburt nicht anwesend war) aus den wirbelnden Tiefen meines Gedächtnisses ziehen muss; denn die Metronommusik von Mountbattens Countdown-Kalender kann nicht länger überhört werden. In Methwold’s Estate tickt der alte Musa immer noch wie eine Zeitbombe, aber ihn kann man nicht hören, weil nun ein anderer Klang
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