Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Mensch auf der ganzen weiten Welt ist blau!»
Der Verwirrung der kleinen Frau entspricht die Bestürzung des Priesters ... denn von Rechts wegen hätte sie nicht so reagieren dürfen. Der Bischof hatte gesagt: «Probleme mit neu Konvertierten ...
wenn sie nach der Farbe fragen, handelt es sich fast immer darum ... wichtig, Brücken zu schlagen, mein Sohn. Bedenke», so sprach der Bischof, «Gott ist die Liebe, und der Liebesgott der Hindus, Krischna, wird immer mit blauer Haut dargestellt. Sag ihnen: blau; das wird eine Art Brücke zwischen den Glaubensbekenntnissen bilden. Sachte, immer sachte, können Sie mir folgen; und außerdem ist Blau eine neutrale Farbe, damit geht man den üblichen Farbproblemen aus dem Weg, und du hältst dich von Schwarz und Weiß fern: Ja, im Großen und Ganzen bin ich sicher, dass man sich dafür entscheiden muss.» Sogar Bischöfe können sich irren, denkt der junge Pater, aber unterdessen ist er ganz schön in der Klemme, denn die kleine Frau regt sich eindeutig auf, hat begonnen, einen schweren Tadel durch das Holzgitter loszulassen: «Blau, was ist denn das für eine Antwort, Vater, wie können Sie so etwas glauben? Sie sollten an den Heiligen Vater Papst in Rom schreiben, er wird Sie bestimmt aufklären; aber man braucht nicht Papst zu sein, um zu wissen, dass Menschen niemals blau sind!» Der junge Pater schließt die Augen, atmet tief durch, geht zum Gegenangriff über. «Haut ist schon oft blau gefärbt worden», stottert er. «Die Pikten, die blauen arabischen Nomaden; hättest du die Gabe der Bildung, meine Tochter, würdest du sehen ...» Aber jetzt hallt ein verächtliches Schnauben im Beichtstuhl wider. «Was, Vater? Sie vergleichen unseren Herrgott mit Wilden aus dem Urwald? O Herr, ich muss mir vor Scham die Ohren zuhalten!» ... Und so geht es weiter, noch lange weiter, bis der junge Pater, dessen Magen ihm die Hölle heiß macht, plötzlich die Erleuchtung hat, dass hinter dieser Sache mit dem Blau noch etwas Wichtigeres stecken muss, und die eine bewusste Frage stellt; worauf die Tirade Tränen weicht und der junge Pater in Panik sagt: «Komm, beruhige dich, sicherlich ist der göttliche Glanz unseres Herrn doch nicht bloß eine Frage der Hautfarbe?» ... Und durch das überströmende Salzwasser eine Stimme: «Ja, Vater, Sie sind letzten Endes doch nicht so übel; genau das habe ich ihm gesagt, genau diese eine Sache nur, aber er hat viele ungehörige Worte gebraucht
und hat nicht hören wollen ...» Das ist es also, er ist in die Geschichte eingetreten, und nun sprudelt alles hervor, und Fräulein Mary Pereira, winzig jungfräulich aufgewühlt, legt eine Beichte ab, die uns einen entscheidenden Hinweis auf ihre Motive liefert, aufgrund deren sie in der Nacht meiner Geburt den letzten und wichtigsten Beitrag zur gesamten Geschichte Indiens im zwanzigsten Jahrhundert lieferte, vom Zeitpunkt an gerechnet, als mein Großvater sich die Nase aufschlug, bis zu der Zeit, in der ich erwachsen wurde.
Mary Pereiras Beichte: Wie jede Mary hatte sie ihren Joseph, Joseph D’Costa, Krankenwärter in einer Klinik in der Pedder Road namens Dr. Narlikars Entbindungsheim («Oho!» Padma sieht endlich einen Zusammenhang), wo sie als Hebamme arbeitete. Zuerst war alles sehr gut verlaufen; er hatte sie zu einer Tasse Tee oder Lassi oder Falooda eingeladen und Süßholz geraspelt. Er hatte Augen wie Presslufthämmer, hart und erfüllt von Ratatat, aber er sprach mit sanfter Stimme und wusste sich gut auszudrücken. Mary, winzig, dicklich, jungfräulich, hatte in seinen Aufmerksamkeiten geschwelgt, aber nun war alles anders.
«Plötzlich, ganz plötzlich schnüffelt er die ganze Zeit in der Luft. Auf eine komische Art, mit gekräuselter Nase. Ich frage: Hast du dich erkältet oder was, Joe? Aber er sagt nein; nein, sagt er, er schnuppert den Wind von Norden. Aber ich sag ihm, Joe, in Bombay kommt der Wind vom Meer, von Westen, Joe ...» Mit brechender Stimme beschreibt Mary Pereira den nachfolgenden Zorn Joseph D’Costas, der zu ihr sagte: «Du weißt überhaupt nichts, Mary, der Wind kommt nun von Norden, und er riecht nach Tod. Diese Unabhängigkeit ist bloß für die Reichen; die Armen werden dazu gebracht, sich gegenseitig umzubringen wie Ungeziefer. Im Pandschab, in Bengalen. Aufruhr, Aufruhr, Arme gegen Arme. Es liegt im Wind.»
Und Mary: «Du redest verrücktes Zeug, Joe, warum machst du dir Sorgen um so schlimme Sachen. Wir können doch weiter in Ruhe leben,
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