Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
ohrenbetäubend, aufdringlich anschwillt: der Klang verstreichender Sekunden, einer näher rückenden, unausweichlichen Mitternacht.
Ticktack
Padma kann es hören: Nichts eignet sich besser zum Aufbau von Spannung als ein Countdown. Ich habe meine Dungblume heute bei der Arbeit beobachtet, sie rührte in Kesseln wie ein Wirbelwind, als ließe das die Zeit schneller vergehen. (Und vielleicht tat es das auch: Zeit ist meiner Erfahrung nach so veränderlich und unbeständig wie Bombays Stromversorgung. Rufen Sie einfach die Zeitansage an, wenn Sie mir nicht glauben – da sie von Elektrizität abhängt, geht sie gewöhnlich ein paar Stunden vor oder nach. Es sei denn, wir sind diejenigen, die falsch gehen ... von Leuten, die für «gestern» dasselbe Wort benutzen wie für «morgen», kann man nicht behaupten, sie hätten die Zeit fest im Griff.)
Doch heute hörte Padma Mountbattens Ticktack ... in England hergestellt, schlägt sie mit unerbittlicher Genauigkeit. Und nun ist die Fabrik leer; Dünste hängen in der Luft, aber die Kessel stehen verlassen; und ich habe mein Wort gehalten. Im Sonntagsstaat begrüße ich Padma, die an meinen Schreibtisch stürzt, sich neben mir zu Boden fallen lässt und befiehlt: «Fang an!» Ich zeige ein zufriedenes kleines Lächeln, merke, wie die Kinder der Mitternacht sich in meinem Kopf aufstellen, stoßend und drängelnd wie Koli-Fischerweiber; ich befehle ihnen zu warten, es dauert jetzt nicht mehr lange, ich räuspere mich, schüttele meinen Federhalter ein wenig aus und beginne.
Zweiunddreißig Jahre vor der Machtübergabe schlug mein Großvater sich an kaschmirischer Erde die Nase auf. Es gab Rubine und Diamanten. Unter der Haut des Wassers wartete das Eis der Zukunft. Ein Schwur erfolgte: sich weder vor Gott noch vor Menschen zu beugen. Dieser Schwur schuf ein Loch, das vorübergehend von einer
Frau hinter einem Laken gefüllt werden sollte. Ein Fährmann, der einst prophezeit hatte, dass in der Nase meines Großvaters Dynastien lägen, ruderte ihn zornig über einen See. Es gab blinde Großgrundbesitzer und Ringerinnen. Und in einem düsteren Zimmer war ein Laken. An jenem Tag begann mein Erbe sich zu formen – das Blau des kaschmirischen Himmels, das in die Augen meines Großvaters hineingetröpfelt war; das lange Leiden meiner Urgroßmutter, das zur Duldsamkeit meiner Mutter und der späteren Unbeugsamkeit Naseem Aziz’ werden sollte; die Gabe meines Urgroßvaters, sich mit Vögeln zu unterhalten, die durch verschlungene Wege des Blutes in die Adern meiner Schwester, des Messingäffchens, eingehen sollte; der Konflikt zwischen großväterlichem Skeptizismus und großmütterlicher Leichtgläubigkeit; und vor allem die gespenstische Natur, die jenem Laken mit dem Loch innewohnte, die meine Mutter dazu verurteilte, einen Mann in Abschnitten lieben zu lernen, und die mich dazu verdammte, mein eigenes Leben – seine Bedeutungen, seine Strukturen – ebenfalls in Bruchstücken zu sehen, sodass es, als ich es endlich verstand, viel zu spät war.
Die Jahre ticken dahin – und mein Erbe wächst, denn nun habe ich die mythischen goldenen Zähne des Fährmanns Tai und seine Schnapsflasche, die die Flaschengeister meines Vaters vorhersagte; ich habe Ilse Lubin für Selbstmord und eingelegte Schlangen für Manneskraft; ich habe Tai-für-Unveränderlichkeit im Gegensatz zu Aadam-für-Fortschritt; und ich habe auch die Ausdünstungen des ungewaschenen Fährmanns, die meine Großeltern nach Süden trieben und Bombay möglich machten.
... Und nun, von Padma und Ticktack angetrieben, ziehe ich weiter, erwerbe Mahatma Gandhi und seinen Hartal, nehme Daumen-und-Zeigefinger zu mir, schlucke den Augenblick, in dem Aadam Aziz nicht wusste, ob er Kaschmiri oder Inder war; nun trinke ich Jod und handförmige Flecken, die in verschüttetem Betelsaft auftauchen, und ich schlucke Dyer samt Schnurrbart und allem herunter; mein Großvater wird von seiner Nase gerettet, und
auf seiner Brust erscheint ein Bluterguss, der nie verblassen wird, sodass er und ich in seinem unaufhörlichen Pochen die Antwort auf die Frage Inder oder Kaschmiri finden. Befleckt von dem Bluterguss, den das Schloss einer Tasche aus Heidelberg verursacht hatte, verbanden wir uns auf Gedeih und Verderb mit Indien; doch die Fremdartigkeit der blauen Augen bleibt. Tai stirbt, aber sein Zauber hängt immer noch über uns und macht uns zu Außenseitern.
... Im Weitersausen mache ich Halt, um das Spiel des
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