Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Schwester Alice als auch Mary verlassen hatte; und die kleine pummelige Frau – in ihrer Angst unfähig, ihr Verbrechen zu gestehen – erkannte, dass sie eine Törin gewesen war. «Dumme Kuh!», beschimpfte sie sich; doch sie behielt ihr Geheimnis für sich. Sie beschloss allerdings, eine Art Schadenersatz zu leisten. Sie gab ihre Stelle im Entbindungsheim auf und wandte sich an Amina Sinai: «Madam, obwohl ich es nur ein einziges Mal gesehen habe, hab’ ich mich in Ihr Baby verliebt. Brauchen Sie eine Ayah?» Und Amina, deren Augen vor Mutterstolz glänzten: «Ja.» Von jenem Augenblick an widmete Mary Pereira («du könntest genauso gut sie deine Mutter
nennen», wirft Padma ein und beweist damit, dass sie doch noch an der Geschichte interessiert ist. «Sie hat dich schließlich gemacht.») ihr Leben meiner Erziehung und verknüpfte so den Rest ihrer Tage mit der Erinnerung an ihr Verbrechen.
Am 20. August folgte Nussie Ibrahim meiner Mutter in die Klinik in der Pedder Road, und der kleine Sonny folgte mir auf die Welt – aber es widerstrebte ihm herauszukommen; eine Zange musste hineingreifen und ihn herausziehen; in der Hitze des Gefechts drückte Dr. Bose ein wenig zu fest zu, und Sonny erschien mit kleinen Dellen an den Schläfen, flachen Vertiefungen, die von der Zange herrührten – und ihn so unwiderstehlich machten wie das Haarteil William Methwolds den Engländer. Mädchen (Evie, das Messingäffchen, andere) streckten die Hand aus, um seine kleinen Täler zu streicheln ... das führte später zu Schwierigkeiten zwischen uns.
Doch die interessanteste Einzelheit habe ich bis zuletzt aufgespart. Lassen Sie mich nun enthüllen, dass meine Mutter und ich am Tag nach meiner Geburt in einem safrangelben und grünen Schlafzimmer von zwei Menschen von der Times of India (Bombay-Ausgabe) besucht wurden. Ich lag in safrangelben Windeln in einem grünen Kinderbettchen und sah zu ihnen hoch. Ein Reporter war da, der seine Zeit damit verbrachte, meine Mutter zu interviewen, und ein großer adlerähnlicher Fotograf, der mir seine Aufmerksamkeit widmete. Am nächsten Tag erschienen sowohl die Worte als auch die Bilder gedruckt ... Erst kürzlich besuchte ich einen Kakteengarten, wo ich einst, vor vielen Jahren, einen Spielzeugglobus aus Blech vergraben hatte, der schlimm verbeult und mit Klebstreifen geflickt war; aus seinem Innern zog ich die Dinge heraus, die ich vor all den Jahren hineingelegt hatte. Sie beim Schreiben in der linken Hand haltend, kann ich – obwohl sie vergilbt und verschimmelt sind – immer noch sehen, dass das eine ein Brief, ein persönlicher Brief an mich ist, unterschrieben vom Ministerpräsidenten von Indien; das andere ist ein Zeitungsausschnitt.
Er hat eine Überschrift: MITTERNACHTSKIND.
Und einen Text: «Eine entzückende Pose von Baby Saleem Sinai, der gestern Nacht genau im Augenblick der Unabhängigkeit unserer Nation geboren wurde – das glückliche Kind dieser glorreichen Stunde!» Und ein großes Foto: ein eins a erstklassiger, riesengroßer Babyschnappschuss auf der Titelseite, auf dem man immer noch ein Kind mit von Muttermalen gefleckten Wangen und einer laufenden und glänzenden Nase erkennen kann. (Das Bild ist untertitelt: Foto: Kalidas Gupta.)
Trotz Überschrift, Text und Foto muss ich unsere Besucher des Verbrechens der Trivialisierung beschuldigen: Als reine Journalisten, die nie weiter sahen als bis zur Zeitung des nächsten Tags, hatten sie keine Ahnung von der Bedeutung des Ereignisses, das sie behandelten. Für sie war es nicht mehr als eine Story von allgemeinem menschlichen Interesse.
Woher ich das weiß? Weil der Fotograf am Ende des Interviews meiner Mutter einen Scheck überreichte – über einhundert Rupien. Einhundert Rupien! Kann man sich eine belanglosere, lächerlichere Summe vorstellen? Es ist eine Summe, wegen der man sich, wenn man Lust hat, beleidigt fühlen könnte. Ich werde ihnen jedoch bloß dafür danken, dass sie meine Ankunft feierten, und vergebe ihnen ihren Mangel an wirklichem Geschichtsgefühl.
«Sei nicht so eitel», sagt Padma mürrisch. «Einhundert Rupien sind keine Kleinigkeit; schließlich wird jeder einmal geboren, so eine tolle Sache ist es auch wieder nicht.»
BUCH II
Der deutende Finger des Fischers
Ist es möglich, auf Geschriebenes eifersüchtig zu sein? Jemandem nächtliches Gekritzel übel zu nehmen, als sei es das leibhaftige Fleisch und Blut einer Rivalin? Einen anderen Grund für Padmas exzentrisches
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