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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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und verdammte das reich geborene Kind zu Akkordeons und Armut ... «Liebe mich, Joseph!», hatte Mary Pereira im Kopf, und dann war es vollbracht. Am Fußgelenk eines Zehn-Chip-Mordskerls mit Augen so blau wie der Himmel in Kaschmir – und auch so blau wie Methwolds Augen – und einer Nase so dramatisch wie die eines kaschmirischen Großvaters – die auch die Nase einer französischen Großmutter war – befestigte sie diesen Namen: Sinai.
    Safrangelb umhüllte mich, als ich dank Mary Pereiras Verbrechen das auserwählte Kind der Mitternacht wurde, dessen Eltern nicht seine Eltern waren, dessen Sohn nicht sein Sohn sein sollte ... Mary nahm das Kind, das aus meiner Mutter Leib stammte und das nicht ihr Sohn sein sollte, einen weiteren Zehn-Chip-Mordskerl, wickelte ihn in Grün und brachte ihn zu Wee Willie Winkie – der sie aus blinden Augen anstarrte, der seinen neuen Sohn kaum wahrnahm, der nie etwas von Mittelscheiteln wusste ... Wee Willie Winkie, der gerade erfahren hatte, dass Vanita es nicht geschafft hatte, ihre Niederkunft zu überleben. Um drei Minuten nach Mitternacht, während die Ärzte sich über einen gebrochenen Zeh aufregten, hatte Vanita eine Blutung gehabt und war gestorben.
    So wurde ich meiner Mutter gebracht, die meine Echtheit keinen Augenblick bezweifelte. Ahmed Sinai saß mit geschientem Zeh auf ihrem Bett, als sie sagte: «Sieh nur, Janum, der arme Kerl hat die Nase seines Großvaters.» Er sah erstaunt zu, wie sie sich vergewisserte, dass nur ein Kopf da war; und dann entspannte sie sich vollkommen und sah ein, dass selbst Wahrsager nur begrenzte Gaben haben.
    «Janum», sagte meine Mutter eifrig, «du musst die Zeitung anrufen. Ruf die Times of India an. Was habe ich dir gesagt? Ich habe gewonnen.»
    «... Dies ist nicht die Zeit für kleinliche oder destruktive Kritik», sagte Jawaharlal Nehru dem Repräsentantenhaus, «nicht die Zeit für Feindseligkeiten. Wir müssen das erlauchte Haus des freien Indien erbauen, in dem alle seine Kinder leben können.» Eine Flagge entfaltet sich: Sie ist safrangelb, weiß und grün.
     
    «Ein Anglo?», ruft Padma entsetzt aus. «Was erzählst du mir da? Du bist ein Anglo-Inder? Dein Name ist nicht dein eigener?»
    «Ich bin Saleem Sinai», sage ich ihr. «Rotznase, Fleckengesicht, Schnüffel, Kahlkopf, Scheibe-vom-Mond. Was meinst du damit – nicht mein eigener?»
    «Die ganze Zeit», jammert Padma wütend, «hast du mich an der Nase herumgeführt. Deine Mutter hast du sie genannt; deinen Vater, deinen Großvater, deine Tanten. Was bist du für einer, dass du noch nicht mal Wert darauf legst, mir die Wahrheit über deine Eltern zu erzählen? Es ist dir egal, dass deine Mutter starb, als sie dich auf die Welt brachte? Dass dein Vater vielleicht noch irgendwo am Leben ist, arm, ohne einen Pfennig? Bist du ein Ungeheuer oder was?»
    Nein: Ich bin kein Ungeheuer. Ich habe mich auch nicht des Betrugs schuldig gemacht. Ich habe Anhaltspunkte vorgelegt ... aber es gibt etwas viel Wichtigeres als das. Und zwar Folgendes: Als wir schließlich Mary Pereiras Verbrechen entdeckten, merkten wir alle,
dass es keinen Unterschied machte! Ich war immer noch ihr Sohn; sie blieben meine Eltern. Irgendwie versagte bei uns allen die Vorstellungskraft, und wir begriffen, dass wir uns einfach keinen Ausweg aus unseren Vergangenheiten ausdenken konnten ... hätten Sie meinen Vater (selbst ihn, trotz allem, was geschehen war) gefragt, wer sein Sohn sei, so hätte ihn nichts auf Erden dazu verleiten können, in Richtung des X-beinigen, ungewaschenen Jungen des Akkordeonspielers zu zeigen. Obwohl er, dieser Shiva, sich zu einer Art Held entwickeln würde.
    Also: Es gab Knie und eine Nase, eine Nase und Knie. Tatsache war, dass überall im neuen Indien, diesem Traum, an dem wir alle teilhatten, Kinder geboren wurden, die nur zum Teil die Abkömmlinge ihrer Eltern waren – die Kinder der Mitternacht waren auch die Kinder der Zeit: gezeugt, verstehen Sie, von der Geschichte. So etwas kann vorkommen. Besonders in einem Land, das selbst eine Art Traum ist.
    «Das reicht», schmollt Padma. «Ich will nichts hören.» Da sie eine Art zweiköpfiges Kind erwartet hat, ist sie nun verärgert, weil ihr eine andere Art angeboten wird. Aber ob sie zuhört oder nicht, ich habe zu berichten.
    Drei Tage nach meiner Geburt wurde Mary Pereira von Reue verzehrt. Es stand eindeutig fest, dass Joseph D’Costa auf der Flucht vor den nach ihm fahndenden Polizeiwagen sowohl ihre

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