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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Benehmen kann ich mir nicht denken, und diese Erklärung hat zumindest das Verdienst, genauso ausgefallen zu sein wie der Wutanfall, den sie bekam, als ich heute Abend den Irrtum beging, ein Wort zu schreiben (und laut vorzulesen), das nicht hätte ausgesprochen werden dürfen ... seit der Episode, als uns der Quacksalber besuchte, rieche ich eine seltsame Unzufriedenheit bei Padma heraus, die ihre rätselhafte Spur aus ihren endokrinen (oder apokrinen) Drüsen absondert. Vielleicht verzweifelt wegen der Sinnlosigkeit ihrer mitternächtlichen Versuche, meinen «anderen Stift», die nutzlose Gurke, die in meiner Unterhose verborgen ist, wieder zum Leben zu erwecken, ist sie quengelig geworden. (Und dann reagierte sie gestern Abend so schlecht gelaunt auf die Enthüllung der Geheimnisse meiner Geburt und war so gereizt, weil ich die Summe von hundert Rupien so gering schätzte.) Ich gebe mir selbst die Schuld: In mein autobiographisches Unternehmen vertieft, habe ich es versäumt, Rücksicht auf ihre Gefühle zu nehmen, und habe heute Abend mit dem unglückseligsten aller falschen Töne angefangen.
    «Von einem Laken mit einem Loch zu einem Leben in Bruchstücken verurteilt», schrieb ich und las ich vor, «habe ich doch größeren Erfolg gehabt als mein Großvater. Denn während Aadam Aziz das Opfer des Lakens blieb, bin ich sein Meister geworden – und Padma ist nun diejenige, die in seinem Bann steht. In meinem verzauberten Schatten sitzend, gewähre ich täglich flüchtige Blicke in
mein Inneres – während sie, die unten auf dem Boden hockt und Blicke zu erhaschen sucht, gefangen ist, hilflos wie ein Mungo, der durch die starren Augen einer sich wiegenden Brillenschlange wie gebannt ist, gelähmt – ja! – von Liebe.»
    Das war das Wort: Liebe. Geschrieben und gesprochen ließ es ihre Stimme ungewöhnlich schrill ansteigen, ließ ihren Lippen heftige Worte entströmen, die mich verletzt hätten, wäre ich durch Worte noch verwundbar. «Dich lieben?», heulte unsere Padma höhnisch auf. «Weswegen denn, mein Gott? Wozu bist du denn gut, kleines Prinzchen» – und nun kam ihr versuchter coup de grâce – «als Liebhaber?» Mit ausgestrecktem Arm, dessen Härchen im Lampenlicht schimmerten, stieß sie einen verachtungsvollen Zeigefinger in Richtung meiner Lenden, die zugegebenermaßen nicht ihren Zweck erfüllen; einen langen dicken Zeigefinger, steif vor Eifersucht, der unglücklicherweise nur dazu diente, mich an einen anderen, längst vergessenen Finger zu erinnern ... sodass sie, als sie ihren Pfeil sein Ziel verfehlen sah, kreischte: «Hergelaufener Verrückter! Der Doktor hat Recht gehabt!», und außer sich aus dem Zimmer stürzte. Ich hörte, wie Füße die Eisentreppe zur Fabrikhalle hinunterklapperten, Füße zwischen den dunkel verhängten Pickleskesseln durcheilten, und dann, wie eine Tür zuerst entriegelt und dann zugeschlagen wurde.
    Man hat mich also verlassen, und da mir keine andere Wahl bleibt, habe ich mich wieder meiner Arbeit zugewandt.
    Der deutende Finger des Fischers: unvergesslicher Mittelpunkt des Bildes, das an einer himmelblauen Wand in Buckingham Villa direkt über dem himmelblauen Bettchen hing, in dem ich als Baby Saleem, Mitternachtskind, meine früheste Kindheit verbrachte. Der Knabe Raleigh – und wer sonst noch? – saß, in Teakholz gerahmt, zu Füßen eines alten sehnigen, Netze flickenden Seemanns – hatte er einen Walrossschnurrbart? –, dessen ausgestreckter rechter Arm sich zu einem wässrigen Horizont hinüberreckte, während seine dahinströmenden Geschichten die faszinierten Ohren Raleighs umplätscherten
 – und wessen Ohren sonst noch? Denn mit Sicherheit war noch ein Junge auf dem Bild, saß mit gekreuzten Beinen da, in durchgeknöpftem Gewand und mit Rüschenkragen ... und jetzt steigt eine Erinnerung in mir auf an eine Geburtstagsfeier, bei der eine stolze Mutter und eine gleichermaßen stolze Ayah ein Kind mit einer gargantuesken Nase mit genauso einem Kragen, genauso einem Gewand bekleideten ... Ein Schneider saß in einem himmelblauen Zimmer unter dem deutenden Finger und kopierte den Putz der englischen Mylords ... «Sseht mal, wie ssüß !», rief Lila Sabarmati und demütigte mich für alle Zeiten. «Er sieht aus, als wäre er geradewegs aus dem Bild herausgekommen!»
    In einem Bild an einer Schlafzimmerwand saß ich neben Walter Raleigh und folgte mit den Augen dem deutenden Finger eines Fischers; die Augen sind angestrengt auf den

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