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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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trafen wir ein Abkommen mit dem Schicksal, und nun ist die Zeit gekommen, unser Versprechen einzulösen, nicht ganz oder in vollem Maße, aber doch zu einem sehr wesentlichen Teil ...»
    Es ist zwei Minuten vor zwölf. In Dr. Narlikars Entbindungsheim ermutigt ein glühender Arzt, unterstützt von einer Hebamme namens Flory, einer freundlichen dünnen Dame, die keine Rolle spielt, Amina Sinai: «Pressen Sie! Fester! ... Ich kann den Kopf sehen ...!», während im Nebenraum ein Dr. Bose – mit Fräulein Mary Pereira an seiner Seite – die Aufsicht über das Endstadium von Vanitas vierundzwanzigstündigen Wehen führt ... «Ja, jetzt, nur noch ein Versuch, kommen Sie; ein letztes Mal, und dann ist es vorbei ...!» Frauen jammern und schreien, während Männer in einem anderen Raum schweigen. Wee Willie Winkie – unfähig zu singen – hockt in einer Ecke und schaukelt vor und zurück, vor und zurück ... Ahmed Sinai sieht sich nach einem Stuhl um. Aber in diesem Zimmer gibt es keine Stühle; der Raum ist zum Auf-und-ab-Laufen gedacht; Ahmed Sinai öffnet also eine Tür, findet einen Stuhl vor einem verlassenen Schreibtisch in der Anmeldung, hebt ihn hoch, bringt ihn in den Raum zum Auf-und-ab-Laufen zurück, wo Wee Willie Winkie schaukelt, schaukelt, seine Augen so leer wie die eines Blinden ... wird sie überleben? oder nicht? ... und nun endlich ist Mitternacht.
    Das Ungeheuer in den Straßen hat zu toben begonnen, während in Delhi ein drahtiger Mann sagt: «... Und Schlag Mitternacht, wenn die Welt schläft, erwacht Indien zu Leben und Freiheit ...»
Und neben dem Brüllen des Ungeheuers lassen sich zwei weitere Schreie vernehmen, Gekreisch, Gebrüll, Geheul von Kindern, die auf die Welt kommen. Ihr vergeblicher Protest vermischt sich mit dem Getöse der Unabhängigkeit, das safrangelb und grün in der Luft hängt ... «Es kommt ein Augenblick, wie es ihn nur selten in der Geschichte gibt, da wir vom Alten zum Neuen schreiten, da ein Zeitalter endet und die Seele einer lange unterdrückten Nation ihren Ausdruck findet» ... während Ahmed Sinai in einem Zimmer mit einem safrangelb und grün gemusterten Teppich immer noch einen Stuhl umklammert hält, als Dr. Narlikar eintritt, um ihn zu informieren: «Schlag Mitternacht, Sinai Bruder, hat deine Begum Sahiba einem großen gesunden Kind das Leben geschenkt: einem Sohn!» Nun begann mein Vater an mich zu denken (ohne zu wissen ...); da das Bild meines Gesichts seine Gedanken erfüllte, vergaß er den Stuhl; ergriffen von der Liebe zu mir (obwohl ...), vom Kopf bis zu den Fingerspitzen davon erfüllt, ließ er den Stuhl fallen.
    Ja, es war meine Schuld (trotz allem) ... es war die Macht meines Gesichts, meines und niemandes anderen, die Ahmed Sinais Hände veranlasste, den Stuhl loszulassen, was wiederum den Stuhl veranlasste, mit einer Geschwindigkeit von elf Metern in der Sekunde hinunterzufallen, und als Jawaharlal Nehru dem Verfassunggebenden Rat sagte: «Wir beenden heute eine Ära des Unglücks», als Muschelhörner schmetternd die neue Freiheit verkündigten, schrie wegen mir auch mein Vater los, denn der fallende Stuhl hatte seinen großen Zeh zerschmettert.
    Und nun kommen wir zur Sache: Der Lärm ließ jedermann herbeilaufen; mein Vater und seine Verletzung schnappten den beiden schmerzensreichen Müttern, den beiden gleichzeitigen mitternächtlichen Geburten für einen kurzen Augenblick das Rampenlicht weg – denn Vanita hatte endlich ein Kind von bemerkenswerter Größe zur Welt gebracht: «Man hätte es nicht für möglich gehalten», sagte Dr. Bose, «es kam einfach immer mehr, immer weiter
zwängte der Junge sich heraus, er ist wirklich und wahrhaftig ein richtiger Zehn-Chip-Mordskerl!» Und Dr. Narlikar, der sich gerade die Hände wusch: «Meiner auch.» Aber das war ein bisschen später  – jetzt gerade kümmerten sich Narlikar und Bose um Ahmed Sinais Zeh; die Hebammen waren angewiesen, das neugeborene Paar zu waschen und zu wickeln; und nun trug Fräulein Mary Pereira ihr Teil bei.
    «Geh nur, geh», sagte sie zu der armen Flory, «sieh zu, ob du helfen kannst. Ich komme hier schon allein zurecht.»
    Und als sie allein war – mit zwei Babys in ihren Armen, zwei Leben in ihrer Macht –, vollbrachte sie ihre eigene revolutionäre Tat – für Joseph, weil sie dachte: Er wird mich gewiss dafür lieben  –, vertauschte die Namensschilder an den beiden riesigen Neugeborenen, gewährte dem armen Baby ein privilegiertes Leben

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