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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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grün. Amina Sinai in einem Raum mit safrangelben Wänden und grüner Holzverkleidung. In einem benachbarten Raum Wee Willie Winkies Vanita mit grüner Haut und Augen, deren Weißes safrangelb durchsetzt ist; durch innere Gänge, die zweifellos ähnlich farbenfroh sind, beginnt das Kind endlich seinen Abstieg. Safrangelbe Minuten und grüne Sekunden ticken auf den Uhren an den Wänden dahin. Das Feuerwerk und die Menschen vor Dr. Narlikars Entbindungsheim passen sich ebenfalls den Farben der Nacht an – safrangelbe Raketen, grün sprühender Regen; die Männer in Hemden in blaugrünen Farbtönen, die Frauen in lindgrünen Saris. Auf einem safrangelb und grün gemusterten Teppich redet Dr. Narlikar mit Ahmed Sinai. «Ich kümmere mich persönlich um deine Begum», sagt er in einem Ton, der so sanft ist wie die Farbe des Abends. «Kein Grund zur Sorge. Du wartest hier; reichlich Platz zum Auf-und-ab-Laufen.» Dr. Narlikar, der keine Kinder mag, ist dennoch ein erfahrener Gynäkologe. In seiner Freizeit hält er Vorträge, schreibt Pamphlete, redet der Nation zum Thema Verhütung ins Gewissen. «Geburtenkontrolle», sagt er, «hat für die Öffentlichkeit Dringlichkeitsstufe Nummer eins. Eines Tages kriege ich das in die dicken Köpfe der Leute. Und dann bin ich arbeitslos.» Ahmed Sinai lächelt, verlegen, nervös. «Vergiss deine Vorträge ausnahmsweise, wenigstens heute Abend», sagt mein Vater, «bring mein Kind zur Welt.» Es sind neunundzwanzig Minuten vor Mitternacht. Dr. Narlikars Entbindungsheim wird heute Abend mit reduziertem Personal geführt; viele sind abwesend, viele Angestellte, die es vorgezogen haben, die bevorstehende Geburt der Nation zu feiern, und heute Abend nicht bei der Geburt von Kindern helfen wollen. In safrangelben Hemden, grünen Röcken drängeln sie sich in den erleuchteten Straßen unter den unendlichen Balkonen der Stadt, auf denen kleine irdene Lampen stehen, gefüllt
mit geheimnisvollen Ölen; Dochte schwimmen in den Lampen, die jeden Balkon und jedes Dach säumen, und auch die Dochte passen sich unserem Zweifarbenschema an: Die Hälfte der Lampen brennt safrangelb, die anderen flackern grün.
    Durch das vielköpfige Ungeheuer der Menge schlängelt sich ein Polizeiwagen; die gelben und blauen Uniformen seiner Insassen sind durch das unirdische Licht in Safrangelb und Grün verwandelt. (Wir befinden uns nun, nur für einen Augenblick, auf dem Colaba Causeway, um zu verraten, dass die Polizei siebenundzwanzig Minuten vor Mitternacht nach einem gefährlichen Verbrecher fahndet. Sein Name: Joseph D’Costa. Der Pfleger ist abwesend, ist schon seit mehreren Tagen seiner Arbeit im Entbindungsheim, seinem Zimmer in der Nähe des Schlachthofs und dem Leben einer aufgewühlten jungfräulichen Mary ferngeblieben.)
    Zwanzig Minuten vergehen mit Aaahs von Amina Sinai, die mit jeder Minute stärker und schneller werden, und schwachen, ermattenden Aaahs von Vanita im Raum nebenan. Das Ungeheuer in den Straßen hat schon zu feiern begonnen; der neue Mythos rinnt ihm durch die Adern und ersetzt sein Blut durch safrangelbe und grüne Körperchen. Und in Delhi sitzt ein drahtiger ernster Mann in der Versammlungshalle des Verfassunggebenden Rates und bereitet sich auf eine Rede vor. In Methwold’s Estate verweilen Goldfische still in Teichen, während die Anwohner von Haus zu Haus gehen, sich mit Pistazien gefüllte Süßigkeiten bringen, sich umarmen und küssen – grüne Pistazien und safrangelbe Laddookugeln werden verspeist. Zwei Kinder bewegen sich geheime Gänge hinab, während in Agra ein alternder Arzt mit seiner Frau zusammensitzt, die zwei Muttermale wie Hexenzitzen im Gesicht hat, und inmitten von schlafenden Gänsen und mottenzerfressenen Erinnerungen sind sie irgendwie in Schweigen verfallen und haben sich nichts zu sagen. Und in allen Großstädten, allen Kleinstädten, allen Dörfern brennen auf Fenstersimsen, Portalen, Veranden die kleinen Öllampen, während im Pandschab in den grünen Flammen abplatzender
Farbe und dem safrangelben Gleißen verfeuerten Treibstoffs Züge verbrennen wie die größten Öllampen der Welt.
    Und die Stadt Lahore brennt auch.
    Der drahtige ernste Mann erhebt sich. Mit heiligem Wasser aus Tanjore benetzt, steht er auf; seine Stirn mit geweihter Asche beschmiert, räuspert er sich. Ohne eine niedergeschriebene Rede in der Hand zu halten, ohne irgendwelche vorbereiteten Worte auswendig gelernt zu haben, beginnt Jawaharlal Nehru: «... Vor vielen Jahren

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