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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Horizont gerichtet, hinter dem was lag? – meine Zukunft vielleicht; mein besonderes Verhängnis, dessen ich mir von Anfang an bewusst war, war grau schimmernd in diesem himmelblauen Zimmer gegenwärtig, undeutlich zuerst noch, doch unübersehbar ... denn der Finger wies sogar noch weiter als bis zum schimmernden Horizont, er deutete über den Teakholzrahmen hinaus, über eine knappe Fläche himmelblauer Wand, und lenkte meinen Blick auf einen weiteren Rahmen, in dem mein unausweichliches Schicksal hing, für immer unter Glas fixiert: Hier war ein riesengroßer Schnappschuss von einem Baby mit seinen prophetischen Überschriften und hier, daneben, ein Brief auf hochwertigem Bütten, geprägt mit dem Staatssiegel – die Löwen von Sarnath standen über dem Dharma-Tschakra auf dem Sendschreiben des Ministerpräsidenten, das durch Vishwanath den Postboten, eine Woche nachdem mein Foto auf der Titelseite der Times of India erschienen war, eintraf.
    Zeitungen feierten mich, Politiker bescheinigten mir meine Stellung. Jawaharlal Nehru schrieb: «Liebes Baby Sinai, meine verspäteten Glückwünsche zum glücklichen Zufall deiner Geburtsstunde. Du bist der jüngste Träger dieses uralten Gesichts Indiens, das zugleich
ewig jung ist. Mit gespannter Aufmerksamkeit werden wir über dein Leben wachen; es wird gewissermaßen der Spiegel unseres eigenen sein.»
    Und Mary Pereira, von Furcht ergriffen: «Die Regierung, Madam? Sie wird den Jungen im Auge behalten? Aber warum denn, Madam? Was stimmt denn nicht mit ihm?» – Und Amina, die den Unterton von Panik in der Stimme ihrer Ayah nicht verstand: «Das ist nur so eine Redensart, Mary. Sie meinen es nicht wirklich so.» Aber Mary entspannt sich nicht, und jedes Mal, wenn sie das Zimmer des Säuglings betritt, zuckt ihr Blick verwirrt zu dem Brief in seinem Rahmen hin; ihre Augen blicken sich um, um zu sehen, ob die Regierung aufpasst; fragende Augen: Was wissen sie? hat jemand was gesehen? ... Und was mich betraf, auch ich konnte, als ich größer wurde, die Erklärung meiner Mutter nicht ganz hinnehmen, aber sie wiegte mich in einem Gefühl falscher Sicherheit, sodass ich, obwohl etwas von Marys Misstrauen in mich hineingetröpfelt war, immer noch überrascht war, als ...
    Vielleicht deutete der Finger des Fischers aber gar nicht auf den Brief in dem Rahmen, denn wenn man der Richtung des Fingers weiter folgte, führte er einen durchs Fenster, das zweistöckige Hügelchen hinunter, über die Warden Road, über das Schwimmbad von Breach Candy hinaus und zu einem anderen Meer, das nicht das Meer auf dem Bild war, einem Meer, auf dem die Segel der Koli-Dhaus purpurrot in der untergehenden Sonne leuchteten ... ein anklagender Finger also, der uns zwang, die Enteigneten der Stadt anzusehen. Oder vielleicht – und diese Vorstellung lässt mich trotz der Hitze ein wenig frösteln – war es ein warnender Finger, der Aufmerksamkeit auf sich selbst lenken wollte; er könnte – ja, warum nicht – die Prophezeiung eines anderen Fingers gewesen sein, eines Fingers – jenem nicht unähnlich –, dessen Eintritt in meine Geschichte die furchtbare Logik von Alpha und Omega offenbaren würde ... mein Gott, was für ein Gedanke! Wie viel von meiner Zukunft hing über meinem Bettchen und wartete bloß darauf, dass
ich sie verstand? Wie viele Warnungen wurden mir erteilt – wie viele nahm ich nicht zur Kenntnis? ... Aber nein. Ich werde kein «hergelaufener Verrückter» sein, um Padmas beredten Ausdruck zu benutzen. Ich werde mich nicht hirnrissigen Abschweifungen hingeben, nicht, solange ich die Kraft habe, den Rissen zu widerstehen.
     
    Als Amina Sinai und Baby Saleem in einem geliehenen Studebaker nach Hause kamen, nahm Ahmed Sinai einen Packpapierumschlag mit auf die Fahrt. In dem Umschlag war ein Limonenkasaundi-Glas, das gespült, ausgekocht, gereinigt worden – und nun wieder gefüllt war. Ein gut verschlossenes Glas, über dessen Blechdeckel eine Gummihaut gespannt war, die mit einem Gummiband festgehalten wurde. Was war unter Gummi versiegelt, in Glas aufbewahrt, hinter Packpapier verborgen? Dies: Mit Vater, Mutter und Säugling reiste ein Quantum Salzlake, in der sachte eine Nabelschnur umhertrieb. (Aber war es meine oder die des anderen? Das kann ich Ihnen nicht sagen.) Während die neu eingestellte Ayah, Mary Pereira, den Weg zu Methwold’s Estate mit dem Bus zurücklegte, reiste eine Nabelschnur mit großem Pomp im Handschuhfach des Studey eines

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