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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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mich auf meinen Platz gleiten ließ. »Ich hoffe, du hast gut geschlafen?«
    »Als hätten ganze Heerscharen von Engeln mich in den Schlaf gesungen«, versicherte ich ihm und holte meinen Schreibblock hervor.
    »Du siehst auch sehr gut aus«, entgegnete er, hatte den Blick aber schon wieder auf die Tafel gerichtet. »Wir wollten gerade über unseren ersten Aufsatz sprechen, James. Metaphern. Wir haben uns während der ersten Hälfte der Stunde mit Metaphern befasst. Die sind dir ein Begriff?«
    Ich schrieb
Metaphern
auf meine Hand. »Mein Lehrer war wie ein Gott.«
    »Das ist ein Vergleich«, gab Sullivan zurück. Er schrieb
wie/als
an die Tafel. »Bei einem Vergleich benutzt man die Vergleichspartikel ›wie‹ oder ›als‹. Eine Metapher wäre: ›Mein Lehrer war ein Gott.‹«
    »Ist er«, rief Megan rechts von mir. Dann kicherte sie und wurde rot.
    »Danke sehr, Megan«, erwiderte Sullivan, ohne sich umzudrehen. Er schrieb
Die Metapher in Hamlet
an die Tafel. »Ich ziehe allerdings Halbgott vor, bis ich mit meiner Promotion fertig bin. Also. Zehn Seiten über die Metapher in
Hamlet
. Das ist die Aufgabe. Die vorläufige Gliederung ist fällig in zwei Wochen.«
    Acht Stimmen stöhnten.
    »Seid nicht kindisch« sagte Sullivan. »Das ist jämmerlich einfach. Grundschüler könnten Aufsätze über die Metapher schreiben.«
    Ich unterstrich das Wort
Metapher
auf meiner Hand. Die Metapher in
Hamlet
war vermutlich das langweiligste Thema, das sich je irgendwer ausgedacht hatte. Neuer Punkt auf meiner To-do-Liste: Pulsadern aufschneiden.
    »James, du siehst noch weniger begeistert aus als deine Klassenkameraden, falls das überhaupt möglich ist. Kommt das nur durch ein Zuviel an Schlaf, oder handelt es sich tatsächlich um unverhohlene Abscheu?«, fragte Sullivan.
    »Ist nicht meine Vorstellung von einem aufregenden Abenteuer, nein«, entgegnete ich. »Aber so ist eine Englischhausaufgabe ja auch nicht gedacht.«
    Sullivan verschränkte die Arme. »Ich mache dir einen Vorschlag, James. Und der gilt für euch alle. Wenn euch ein aufregenderes, abenteuerlicheres Thema für diesen Aufsatz einfällt – das etwas mit
Hamlet
und Schrägstrich oder Metaphern zu tun hat –, könnt ihr mir davon gern eine Gliederung vorlegen. Der Sinn der Sache ist, dass ihr in diesem Kurs
etwas lernt
. Und wenn ihr ein Thema wirklich nicht ausstehen könnt, werdet ihr sowieso nur ins Internet gehen und euch irgendwo einen Aufsatz herunterladen.«
    »Das geht?«, hauchte Paul.
    Sullivan schaute ihn streng an. »Und wo wir gerade von gehen sprechen, raus mit euch. Macht euch schon mal ein paar Gedanken zu dieser Aufgabe und lest weiter. Wir werden in der kommenden Stunde über den nächsten Abschnitt sprechen.«
    Die übrigen Schüler packten zusammen und verließen ungestraft zu früh den Raum. Wie ich schon geahnt hatte, rief Sullivan mich jedoch zu sich, als ich gerade gehen wollte. Er wartete, bis die anderen draußen waren, schloss dann die Tür hinter ihnen und setzte sich auf seine Schreibtischkante. Seine Miene war ernst, aber mitfühlend. Die Morgensonne fiel durch das Fenster hinter ihm und ließ sein staubig braunes Haar hellgolden leuchten, so dass er aussah wie ein müder Engel in einem Buntglasfenster – einer, der nicht wie die anderen auf seiner himmlischen Posaune spielt, sondern sie eher aus Pflichtgefühl zeigt und so tut, als ob.
    »Bringen wir es hinter uns«, sagte ich.
    »Ich könnte dir einen Verweis fürs Zuspätkommen geben.« Sobald Sullivan das gesagt hatte, wusste ich, dass er es nicht tun würde. »Aber ich glaube, diesmal belasse ich es bei einem Klaps auf die Finger. Wenn das noch einmal vorkommt …«
    »… bin ich dran«, beendete ich den Satz.
    Er nickte.
    Das wäre die passende Stelle gewesen, um »Danke« zu sagen, aber das Wort fühlte sich in meinem Mund fremd an. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich es zuletzt ausgesprochen hatte. Dabei hatte ich mich noch nie als undankbar betrachtet.
    Sullivans Blick fiel auf meine Hände. Ich sah seine Augen hierhin und dorthin wandern, während er versuchte, den Worten auf meiner Haut einen Sinn abzugewinnen. Sie waren alle in unserer Sprache, und trotzdem konnte nur ich sie verstehen.
    »Ich weiß, dass du kein normaler, durchschnittlicher Junge bist«, meinte Sullivan. Er runzelte die Stirn, als hätte er eigentlich etwas anderes sagen wollen. »Ich weiß, dass mehr an dir dran ist, als du dir anmerken lässt.« Er schaute auf den Eisenreif an meinem

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