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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Handgelenk.
    Im Geiste probierte ich verschiedene Sätze aus:
Ja, ich bin ungewöhnlich tiefsinnig
oder
Die Anzahl der Räume in dem Haus, das meine Persönlichkeit darstellt, ist beträchtlich
oder
Höchste Zeit, dass das mal jemand merkt
. Aber keiner davon erschien mir richtig, also schwieg ich.
    Sullivan zuckte mit den Schultern. »An uns Lehrern ist auch mehr dran, als wir uns anmerken lassen. Wenn du jemanden zum Reden brauchst, hab keine Angst, das mit einem von uns zu tun.«
    Ich sah ihn direkt an. Wieder trat mir lebhaft das Bild vor Augen, wie er auf die Knie fiel und Blut und Blumen kotzte. »Worüber denn?«
    Kurz und humorlos lachte er auf. »Über meine liebsten Auflaufrezepte. Darüber, was deinem Zimmerkameraden solche Angst macht. Oder darüber, warum du gerade jetzt entsetzlich aussiehst. Irgendwas davon.«
    Weiterhin betrachtete ich ihn, sah noch immer dieses Bild von ihm in seiner eigenen Pupille, wie er auf dem Boden starb. Ich wartete darauf, dass er den Blick abwandte. Das tat er nicht. »Ich hätte tatsächlich gern ein gutes Rezept für Lasagne. Das ist doch ein Auflauf, oder nicht?«
    Sein Mund nahm eine schiefe Form an, die geschickt ein Lächeln imitierte. »Geh zu deiner nächsten Stunde, James. Du weißt, wo ich zu finden bin, falls du mich brauchen solltest.«
    Ich blickte auf den breiten eisernen Ring an seinem Finger und wieder in sein Gesicht. »Was waren Sie eigentlich, als Sie noch kein Englischlehrer gewesen sind, Mr.Sullivan?«
    Er nickte nur langsam, sog nachdenklich an der Unterlippe und gab sie dann frei. »Gute Frage, James. Gute Frage.« Doch er beantwortete sie nicht, und ich stellte sie ihm nie wieder.
    Neue Textnachricht
    An:
    James
     
    Die musik, die man hört, sagt allen, was für ein mensch man ist. Meine zimmergenossin ingrid ist ein mozart-mensch. Sie hat heimweh, kann aber nicht mit mir darüber reden, weil ich ein trad. irisches mädchen bin und wir nicht dieselbe sprache sprechen.
     
    Absender:
    Dee
     
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    Nachricht wird 30  Tage gespeichert.

[home]
    James
    D er Hügel, auf dem ich normalerweise übte, lag strategisch sehr günstig: weit genug weg von den Wohnheimen und den Unterrichtsräumen, damit niemand in der Schule mitbekam, was ich spielte. Gleichzeitig war er nah genug, um es bei einem Regenschauer oder beim Angriff eines tollwütigen Dachses zurück zur Schule zu schaffen, ehe ich durchweicht oder aufgefressen wurde.
    Es war ein herrlicher Herbstnachmittag von der Sorte, die gern auf Hochglanzpapier gedruckt wird. Mein Aussichtspunkt auf dem Hügel schien noch mehr von seiner Schönheit einzufangen, wie eine von diesen konvexen Kameras, mit denen sie in Einkaufszentren Ausschau nach Ladendieben halten. An diesem Nachmittag eilten Wolken vorbei, der Wind roch nach Holzrauch, und der Himmel war strahlend blau und so hoch und weit, dass er den Hügel in seine eigene himmelblaue Blase einzuschließen schien.
    Ich hatte das Gefühl, dass ich überall auf der Welt sein könnte. Überall im Universum. Dieser Hügel war ein Planet für sich.
    Dudelsackspielen ist eine interdisziplinäre Angelegenheit: Es besteht zu gleichen Teilen aus Musik, Sport, Rätseln und Gedächtnistraining. Die Pfeifen sind außerdem eine kleine Mathematikaufgabe: drei Bordunpfeifen, eine Bass- und zwei Tenorpfeifen. Eine Spielpfeife mit acht Grifflöchern und einem Doppelrohrblatt, dessen zwei »Zungen« vibrieren, gegeneinanderschlagen und eine bestimmte Tonhöhe erzeugen. Ein Luftsack, ein Anblasrohr, um ihn zu füllen, unbegrenzte Möglichkeiten für Sackwitze und Blasscherze. Ich holte den Dudelsack aus dem Koffer und drückte das Doppelrohrblatt sacht mit der Zwinge, um die Tonhöhe anzupassen, ehe ich die Spielpfeife in den Balg steckte und ihn mir auf die Schulter warf.
    Eine Weile stimmte ich das Instrument und spielte ein paar Übungen zum Aufwärmen, bevor sich mein übliches Publikum einstellte. Eric, der am Rand der Hügelkuppe saß, mit einem seiner erschreckend dicken Wälzer in irgendeiner Fremdsprache, den er für seine Master-Arbeit las. Megan mit einem Roman in der Hand. Zwei weitere Studenten, die ich nicht kannte und die in sicherer Entfernung mit ihren Hausaufgaben beschäftigt waren. Paul natürlich, allein schon aus Solidarität. Und Sullivan. Das war neu. Er kam den Hügel herauf, wobei er mit seinen langen Gliedern an eine Gottesanbeterin erinnerte, und blieb vor mir stehen.

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