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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Sein Blick fiel kurz auf mein T-Shirt (auf dem in großen krakeligen Buchstaben
Die Stimmen sagen, ich soll Dir nicht trauen
stand) und kehrte dann zu meinem Gesicht zurück.
    Ich ließ das Blasrohr sinken und zog eine Augenbraue hoch.
    Sullivan betrachtete mich mit seinem üblichen liebenswürdigen Lächeln. Der Wind fuhr von hinten durch sein Haar und blies es hoch. Mit wirren Haaren und ohne sein Jackett, das ihm als Lehreruniform diente, hätte man ihn leicht für einen Schüler halten können. Der Geschäftsführer, wegen dem seine Frau ihn hatte sitzenlassen, musste entweder verdammt scharf oder verdammt reich sein, dass sie Sullivan seinetwegen verlassen hatte.
    »Verderbe ich dir den Spaß am Spielen?«, fragte Sullivan freundlich.
    Falls er damit meinte, ob es mich total verblüffte, dass er sich meinem Gefolge auf dem Hügel anschloss, ja. Laut sagte ich jedoch: »Sie kränken mich zutiefst.«
    »Ach ja?« In einem einzigen geschickten Manöver setzte Sullivan sich im Schneidersitz auf den Boden. »Ich will dich natürlich nicht beim Üben stören.«
    »Also, das ist eine offensichtliche Lüge. Ich bin ziemlich sicher, dass Sie hier sind, um zu stören«, erwiderte ich, und Sullivan grinste. »Als was sind Sie hier, als Kundschafter?«
    Sullivan machte es sich demonstrativ umständlich im Gras bequem, ehe er ein kleines Tonbandgerät hervorholte und zwischen sich und meinen Schuhen auf den Boden stellte. »Ich wollte nur herausfinden, wie sich der beste Sackpfeifer in ganz Virginia anhört. Verstehst du, für mich klingen Dudelsäcke immer so, als würden sie alle ständig denselben Marsch spielen. Wie heißt dieser ganz berühmte gleich – ›Scotland the Brave‹? So hört sich für mich alles an, was auf einem Dudelsack gespielt wird.«
    Ich quittierte das, indem ich ihm die Zähne zeigte, halb Lächeln, halb Grimasse. »Mr.Sullivan«, sagte ich vorwurfsvoll. »Ich dachte, ich sei hier der Witzbold.«
    Mit schiefem Grinsen sah er mich an. Ich trat zurück, um den Sack mit Luft zu füllen, und fragte mich, was ihm wohl dieses dreiste Grinsen aus dem Gesicht wischen könnte. Etwas Schnelles? Oder etwas Bewegendes? Da er meine Wettbewerbsergebnisse kannte, würde er schiere technische Brillanz ohnehin schon erwarten: Also war etwas Anspruchsvolles, das einem die Finger verknoten konnte, nicht das Richtige. Ich brauchte eher etwas, das ihn an die Qual erinnerte, von seiner Frau betrogen worden zu sein.
    Noch einmal überprüfte ich das Instrument und begann dann mit »Cronan«, dem vermutlich jammervollsten, pathetischsten Stück, das je für den Dudelsack komponiert worden war und sogar in den Händen eines weniger brillanten Pfeifers noch einen Massenmörder zu Tränen gerührt hätte. Sullivan hatte gar keine Chance.
    Ich legte alles hinein, was ich hatte. Und ich hatte reichlich Leid zu bieten, um das Stück wahrhaftig zum Leben zu erwecken. Dee, die auf diesem Hügel sein sollte, aber nicht da war. Mein wunderschönes Auto, das auf dem Parkplatz stehen sollte, aber im Sommer zum Wrack zerschellt war, so dass ich jetzt das Auto meines Bruders fahren musste. Und die Tatsache, dass ich eine verdammte Insel inmitten eines Meeres aus tausend Leuten war und dass mir die Last, der Letzte einer gefährdeten Art zu sein, manchmal die Luft aus der Lunge drückte.
    Ich hörte auf.
    Die Schüler klatschten. Paul tat so, als wische er sich eine Träne von der Wange, um sie ins Gras fallen zu lassen. Sullivan drückte auf »Record«.
    »Sie haben das Band bis jetzt nicht mitlaufen lassen?«, fragte ich ihn.
    »Ich wusste nicht, ob das nötig sein würde.«
    Stirnrunzelnd schaute ich ihn an, und er blickte finster zurück. Dann merkte ich, dass die Härchen auf meinem Arm warnend kribbelten.
    »Sag nichts.« Ich hörte Nualas Stimme eine Sekunde, ehe ich sah, wie sie an Eric, Paul und Sullivan vorbeiging und neben mir stehenblieb. »Du bist im Moment der Einzige, der mich sehen kann. Wenn du also mit mir sprichst, wird es aussehen, als hättest du zu lange ohne Sauerstoff im Geburtskanal gesteckt oder so.«
    Ich wollte eine Bemerkung machen wie »Danke für den heißen Tipp«, aber es ist verdammt schwer, bissig zu sein, wenn man nichts sagen kann. Und sie machte mir zwar eine Scheißangst, aber, verdammt, sie sah heute einfach scharf aus. Die sonnengebleichten Strähnen in ihrem Haar, die spitze, sommersprossige Nase und der sarkastische Zug um den Mund. Sie trug ein enges schwarzes T-Shirt und Jeans, die so tief

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