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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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gewünscht hatte. Irgendwie glaubte ich, sie würde mich aus irgendeinem Grund küssen – vielleicht, weil sie auf meinen Mund schaute. Ich hatte die grässliche Vorstellung, dass sie es tatsächlich tun würde und ich dabei an Dee denken müsste, und dann würde sie mir einen langsamen und qualvollen Tod bereiten, den man Versicherungsleuten nur schwer erklären könnte.
    Nuala löste den Blick von meinem Mund und sah mir in die Augen. »Hol deinen Stift heraus.«
    Das tat ich. Wir hatten kein Papier, aber das spielte keine Rolle. »Wie sollen wir es nennen?«
    Ohne zu zögern, kletterte Nuala auf den Sitz hinter meinem, so dass sie die Arme um meine Schultern schlingen konnte. Mein sechster Sinn sagte mir, dass sie sich kalt anfühlte. Ein ganz anderer Sinn dagegen erfüllte meinen Körper mit Hitze, als sie ihre Wange an meine lehnte und ihr Mundwinkel gerade so meine Haut berührte.
    Ich drückte die Kugelschreibermine heraus und ließ den Stift einen Moment lang an meiner Handfläche ruhen, während ich ihrem Schweigen lauschte. Dann schrieb ich:
Ballade.
    Neue Textnachricht
    An:
    James
     
    Ich hab alles zw. uns ruiniert, ich bin eine idiotin. Ich will irgendwas so sehr, weiß aber nicht, was. Ich dachte, vielleicht bist du es. Aber du hast den kuss ganz ernst gemeint. Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll.
     
    Absender:
    Dee
     
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    Nachricht wurde nicht gesendet.
     
    Nachricht speichern? J /N
    Nachricht wird 30  Tage gespeichert.

[home]
    James
    W eil ich kein
richtiger
Musikschüler war und weil Sullivan einfach kein Organisationstalent besaß, mussten wir uns für meine Klavierstunde im alten Auditorium treffen. Es hatte sich herausgestellt, dass sämtliche Übungsräume freitagnachmittags um fünf von richtigen Klavierschülern, richtigen Klarinettenschülern und richtigen Cellisten mit all ihren richtigen Lehrern und Orchesterleitern besetzt waren.
    Stattdessen suchte ich mir jetzt den Weg zur hässlichen Brigid Hall. Wie um zu beweisen, dass Brigid kein nützliches Mitglied der Thornking-Ash-Riege mehr war, hatten die Gärtner die Wiese zwischen Brigid und den anderen akademischen Gebäuden herbstlich verwildern lassen und Buchsbaum und Efeu erlaubt, die trübseligen Mauern aus gelblichem Backstein zu erobern. Die deutliche Botschaft an alle Eltern, die zu Besuch kamen, lautete:
Machen Sie keine Fotos von diesem Teil des Schulgeländes. Das Gebäude wurde als zu hässlich für die akademische Nutzung befunden. Glauben Sie nicht, wir hätten das übersehen.
    Auf dem Weg piepste mein Handy in der Hosentasche. Ich holte es hervor und sah eine SMS von Dee. Als ich sie aufrief, waren die ersten Worte, die ich erblickte:
    James, es tut mir so leid.
    Mir wurde schlecht. Ich löschte die Nachricht, ohne weiterzulesen. Dann steckte ich das Handy wieder ein und ging um die Brigid Hall herum zum Eingang.
    Die abblätternde rote Farbe der Tür kam mir irgendwie bedeutungsvoll vor. Ich konnte mich nicht erinnern, sonst irgendwo auf dem Campus noch andere rote Türen gesehen zu haben. Ein Einzelgänger wie ich. Aus Solidarität ballte ich eine Hand zur Faust und grüßte den Knauf sacht mit den Fingerknöcheln. »Du und ich, Kumpel«, hauchte ich. »Wir verstehen uns.«
    Ich öffnete die Tür und stand in einem langen, schmalen Raum voller Klappstühle, die alle aufmerksam zu einer niedrigen Bühne am anderen Ende des kleinen Gebäudes schauten. Es roch nach Moder und altem Parkett und dem Efeu, der sich an den Milchglasscheiben empordrängte. Auf der Bühne beleuchteten in die Decke eingelassene Scheinwerfer einen Flügel, der so alt und hässlich war wie das Gebäude selbst. Das Ganze wirkte wie ein Crashkurs in
Scheußlichkeiten der 50 er-Jahre-Architektur, die man am besten vergisst
.
    Sullivan saß am Flügel, und seine knochigen Finger spielten mit den Tasten. Nichts Überwältigendes, aber er war offensichtlich mit dem Instrument vertraut. Und immerhin klang der Flügel nicht halb so schlimm, wie er aussah. Ich ging durch das Publikum aus Klappstühlen, schnappte mir einen aus der ersten Reihe und nahm ihn mit auf die Bühne.
    »Sei gegrüßt,
Sensei
«, sagte ich zu ihm und ließ meinen Rucksack auf den Stuhl neben dem Flügel fallen. »Was für eine hübsche Kreation, dieser Flügel.«
    »Ja, nicht? Und ich glaube, außer mir erinnert sich niemand mehr daran, dass es dieses Gebäude überhaupt gibt.« Sullivan spielte
Shave and a Haircut,
ehe er von der Klavierbank aufstand.

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