Mitternachtskinder
»Seltsam, wenn man sich vorstellt, dass das hier mal ihr Konzertsaal war. Hässliche Bude, was?«
Mir fiel die Distanzierung auf. Nicht »
unser
Konzertsaal«. Sullivan sah mich stirnrunzelnd an. »Fühlst du dich nicht gut?«
»Ich habe nicht viel geschlafen.« Eine Untertreibung von kosmischem Ausmaß. Ich wollte nur noch, dass dieser Tag endlich vorbeiging, damit ich ins Bett fallen konnte.
»Du meinst, abgesehen von dem Nickerchen in meinem Unterricht«, entgegnete Sullivan.
»Manche Leute sagen, dass Zuhören in Ruhestellung am effektivsten sei.«
Er schüttelte den Kopf. »Natürlich. Ich werde den Beweis für die Effektivität in deiner nächsten Prüfung suchen.« Er wies auf die Klavierbank. »Dein Thron.«
Ich setzte mich. Die Bank quietschte und wackelte gefährlich. Der Flügel war so alt, dass der Name des Herstellers über den Tasten fast gänzlich verschwunden war. Und er miefte. Nach zermahlenen alten Damen. Sullivan hatte ein paar Blätter auf den Notenhalter gelegt – irgendetwas von Bach, das vermutlich einfach aussehen sollte, aber für Dudelsackmusik viel zu viele Linien hatte.
Sullivan drehte den Klappstuhl herum und setzte sich rücklings darauf. Seine Miene war gespannt. »Du hast also noch nie Klavier gespielt.«
Die Erinnerung an Nualas Finger auf meinen wurde irgendwie von der Erinnerung an letzte Nacht gefärbt. Ich ballte die Finger zur Faust und ließ wieder locker, damit sie nicht zitterten. »Nach unserer Unterhaltung habe ich es mal ausprobiert. Ansonsten …« Als ich diesmal mit den Fingern über die Tasten strich, erschauerte ich bei dem Gedanken an Nuala und zuckte ganz leicht zusammen. »… sind wir uns praktisch fremd.«
»Du kannst also die Musik da auf dem Notenhalter nicht spielen.«
Ich sah mir die Noten an. Das war wie eine Fremdsprache – keine Chance, dass ich das spielen könnte. »Verstehe nur Bahnhof.«
Sullivans Stimme veränderte sich, sie klang jetzt hart. »Und die Musik, die du mitgebracht hast?«
»Ich kann Ihnen nicht ganz folgen.«
Mit dem Kinn deutete Sullivan auf meine Arme, die in den langen Ärmeln meines schwarzen
ROFLMAO
-
Shirts steckten. »Irre ich mich?«
Ich wollte ihn fragen, woher er das wusste. Er konnte geraten haben. Die Zeichen auf meinen Händen, teils Worte, teils Musik, wurden von beiden Ärmelsäumen verdeckt. Vielleicht hatte ich sie auch vorhin in seinem Unterricht hochgeschoben. Ich konnte mich nicht daran erinnern. »Ich kann auf dem Klavier nicht nach Noten spielen.«
Sullivan stand auf, winkte mich von der Bank und setzte sich auf meinen Platz. »Aber ich. Roll die Ärmel hoch.«
In der orange-gelben Bühnenbeleuchtung blieb ich stehen und krempelte die Ärmel hoch. Meine beiden Arme waren ganz dunkel vor lauter Musikfetzen, die ich in winziger Handschrift auf hastig gestrichelten Notenlinien daraufgemalt hatte. Die Noten zogen sich um meine gesamten Arme herum und waren am rechten hässlicher und schwerer zu lesen, weil ich mit der linken Hand hatte schreiben müssen. Ich sagte nichts. Sullivan betrachtete meine Arme mit einem Gesichtsausdruck voller Zorn oder Entsetzen oder Verzweiflung.
Doch er sagte nur: »Wo ist der Anfang?«
Ich musste kurz danach suchen und fand ihn in der linken Armbeuge.
Er begann zu spielen. Die Musik klang viel
älter
als in meiner Erinnerung daran, wie ich sie mit Nuala gesummt und gesungen hatte. Sehr modal, sie tanzte auf der Grenze zwischen Dur und Moll. Außerdem klang sie viel genialer. Sie war geheimnisvoll, schön, sehnsuchtsvoll, dunkel, hell, tief und hoch. Eine Ouvertüre. Eine Sammlung all der Melodien und Themen, die wir in unser Stück einarbeiten würden.
Sullivan erreichte das Ende der Noten auf meinem linken Arm und hielt inne. Er deutete auf seine flache, lederne Notentasche, die am Bein des Flügels lehnte. »Gib mir das.«
Ich reichte sie ihm und sah zu, wie er hineingriff und dasselbe kleine Tonbandgerät hervorholte, das er damals auf den Hügel mitgebracht hatte. Er stellte es auf den Flügel und schaute es an, als enthalte es alle Geheimnisse dieser Welt. Dann drückte er auf »Play«.
Ich hörte meine Stimme, leise und etwas blechern: »Sie haben das Band bis jetzt nicht mitlaufen lassen?«
Sullivans Stimme wirkte sehr jung und kraftvoll, wenn sie nicht direkt aus seinem Körper kam. »Ich wusste nicht, ob das nötig sein würde.«
Langes Schweigen, das Tonband rauschte leise, Vögel sangen in der Ferne.
Und dann Nualas Stimme: »Sag nichts.« Mir war
Weitere Kostenlose Bücher