Mitternachtslöwe (German Edition)
gefiederte Bäume heran, Feder für Feder, einer zu jeder Seite des Vollmondes. Ein üppiges Federkleid ragte empor, göttliche Schwingen in stillem Glanz. Sie breiteten sich aus, öffneten sich und zeigten ihren vollen Anmut.
»Na los! Rein mit euch!«, sagte der alte Schäfer unfreundlich.
Abaris war wie betört. Ein leises Flüstern, ein Lied, lockte ihn. Sachte hoben und senkten die Schwingen sich, wie der Brustkorb eines schlafenden Kindes. Sie atmeten. Er schritt durch die Flügel genau auf den Mond zu. Das Licht ging über in ein Leuchten von dem sonst nur die Sterne wissen wo man es findet, doch blendete es ihn keineswegs. Und auf einmal wandelte Abaris auf Wolken. Kleine, bauschige Wolken kitzelten ihn bis durch die Sohle. Mit einem schelmischen Kichern trugen sie jeden seiner Schritte. Fernab der weißen Pracht spannte sich ein guttuendes Blau über ihn hinweg. Einen friedfertigeren Ort gab es nicht.
Vor Abaris Augen erschien ein Gebilde. Er wusste nicht, ob er sich darauf zubewegt hatte oder ob es von selber herbeigekommen war. Der Dunst der Wolken wirbelte drumrum, als würde er es streicheln und entschwand so schnell wie die Erscheinung aufgetreten war. Es war die staubbehangene Statue eines alten Mannes. Seine Darstellung glich einem Adelsmann auf seinem Thron. Doch von Adel keine Spur. Seine Arme waren ein knochiges Gerüst. Die dünnen Haare verdeckten das Gesicht. Gebeugt und angespannt saß er dort, als warte er darauf... auf irgendetwas.
»Der Körper ist nur Ballast, den die Seele gezwungen ist mit sich zu tragen. Ohne ihn wäre sie frei«, sprach eine Stimme, die klang, als käme sie vom anderen Ende eines langen Tunnels.
Gegenüber der Statue, wie deren Spiegelbild, saß ein Mann auf einem Thron. Abaris erkannte nur seine Umrisse aus Licht und Schein, wie ein Kind des Mondlichts sah er aus. Hinter dem Schleier aus leuchtenden Haaren, die sein Gesicht verbargen, wanden sich seine Lippen. So leise und dennoch klar, aber in einer Sprache die uralt klang, wie von den Göttern selbst gesprochen, trugen sie das Flüstern, das Lied, von sich.
»Denn die Materie beschwert die Seele«, kroch seine Stimme tief aus einem Schacht hervor, »Deswegen sagte ich mich los von allen irdischen Dingen, auch von meinem Körper. Ich bin Aluqua, der astrale Hüter des Gipfels des Dreikopfs. Seid willkommen, Reisende. Ich besah euch seit eurer Ankunft am Fuße meines Berges. Ihr sucht die Schätze, die Hinterlassenschaften, das was einst zurückgelassen. Das, von dem ich nicht imstande mehr bin es zu erfassen.«
»Paracelsus' Schatz... Ist er hier?«, fragte Sophia.
»Schweig«, schallte die Stimme wie aus einem Tal. Das Strahlen von Aluquas Gesicht verschob sich. »Du«, er blickte auf Abaris, »Komm zu mir.«
»Ich sah diesen Berg in einer Vision. Es war dieser Gipfel, da bin ich mir sicher, doch sah dort alles anders aus. Düsterer, kälter. Nicht so erleuchtet wie das hier. Was bedeutet das?«
»Ihr seht das, was Ihr sehen wollt. Das, was geschieht. Der Pfeil. Ihr habt den Pfeil.«
Abaris verstand nicht. »Welcher Pfeil? Ich besitze keinen Pfeil!«
»Das Geschenk das Euch gegeben ward. Das Licht Apollos«, hallten Aluquas Worte wie von Bergwänden wieder.
Konnte es sein? Der Stab? Abaris holte ihn hervor. »Meint ihr das hier? Aber, er ist nutzlos. Er funktioniert nicht mehr. Seine Kraft ist verloren.«
»Verloren gegangen ist nicht die Kraft des Pfeils, sondern der Glaube an Euch selbst«, kletterte die Stimme des Mannes vom Grund eines Brunnens hinauf. Erstmals bewegte sich Aluqua. Er streckte die Hände aus und legte sie zusammen. Langsam zog er sie auseinander und zwischen seinen Handflächen blieb das Licht, aus dem er gemacht war, bestehen. Als Aluqua seine Arme voll ausgebreitet hatte, schwebte ein leuchtender Bogen vor ihm. Geformt aus tausend blauen Funken, beschliffen von himmlischem Glanz und bespannt mit der Sehne des Lichts der Sonne. Er zog Abaris an. Er wollte ihn - er war für ihn! Er nahm ihn. Abaris Stab glühte auf. Seine Form zerfloss und setzte sich neu zusammen zu einem Pfeil. Bogen und Pfeil brillierten. Und wie damals, als er seinen Stab empfing, durchfuhr ihn Kraft und Stärke. Und auch etwas Neues: ein Gefühl von Macht. Abaris glänzte, er funkelte.
Auf den nächsten Wimpernschlag hin waren die Wolken verschwunden. Der blaue Himmel legte sich in grau und auch das Abbild Aluquas war fort. Wie aus einem blechernen Schrank echoten ein paar Worte aus der anderen Welt: »Wirf
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