Mitternachtslöwe (German Edition)
Gewissen. »Ich kenne diesen Berg.«
»Warst du schon einmal hier?«, fragte Sophia.
Ohne den Blick vom mächtigen Stein zu lösen sagte Abaris: »Nein, ich sah ihn in einem Traum.« Es war der selbe Berg den Abaris damals in der Vision im Labyrinth gesehen hatte. Derselbe finstere Schatten den die schwarzen Vögel umflogen, derselbe vor dem das schleierhafte Tierwesen zu ihm sprach.
»Da rauf!«, rotzte der Schäfer von sich.
Ein schmaler Steinpfad, für jene die nicht wussten, dass er dort lag nicht sichtbar, führte an der Seite des Tals nach oben. Schon nach wenigen Schritten wurde der Weg steiler und immer schmaler. Bald war der Pfad so schmal, dass noch nicht einmal ein schlankes Wiesel sich darauf hätte winden können. Eine Tatsache, die der Schäfer und Boj einfach ignorierten. Wo Abaris und die anderen sich dicht an den Felsen pressen mussten, stolzierten die zwei weiter, als gäbe es weder den Fels an der einen, noch den Todes haschenden Schlund auf der anderen Seite. Oft sah es aus, als würde der Schäfer blanken Fußes ins Nichts wandern, änderte dann aber auf der Verse die Richtung oder stellte sich auf die Zehenspitzen und schaffte es galant dem Fall zu entgehen.
Die Gegend wurde blasser. Ein unsichtbarer Schwamm sog auf, was das kleinste Fleckchen Bunt besaß. Nichts, nicht einmal der graue Fels, schien schon bald mehr eine Farbe zu haben. Auch wie hoch sie sich bereits befanden, konnte Abaris nicht erkennen. Alles zu seinen Füßen glich einer stark verwaschenen Kohlezeichnung. Bei jedem Schritt bangte Abaris in die Tiefe zu stürzen, hinein in ein endloses Toben aus verschmierten Streifen.
Plötzlich rissen unsichtbare Hände an Abaris, rüttelten und schüttelten ihn durch. Ein Sturm peitschte den Fels entlang, rieb den kohlegemalten Stein ab und blies ihn davon. Drohend klagte er ein Lied an die Wand, eine Mahnung sich keinen einzigen Schritt weiterzuwagen. Die kleine Maria kreischte, als der Wind an ihrem Leib zerrte. Die luftverworrenen Finger zupften an ihrem Kleidchen, Maria rutschte ab und stürzte von der Felskante. Hätten Abaris und Sophia sie nicht die ganze Zeit über an den Händen gehalten, einer rechts, der andere links, so hätte ihr Fall kein gutes Ende genommen. Doch sie hielten das Mädchen, zogen es hoch und plötzlich war alles ganz still. Es gab keinen Wind mehr. Der schmale Pfad war zu einem breiten Weg ausgewachsen, vor und hinter ihnen, als wäre es nie anders gewesen.
»Irgendjemand oder irgendwas will nicht, dass wir den Gipfel erreichen«, murmelte Abaris. Er blickte starr hinauf zur schier unerreichbaren Spitze des Dreikopfs. Unten erkannte er das Tal durch das sie gegangen waren. Noch nicht einmal eine Minute entfernt schätzte er. Dabei kam ihm der Balance-Akt am Fels wie Stunden vor.
»Weiter!«, schrie der Schäfer, »Los doch! Nicht stehen bleiben!« Boj unterstützte ihn durch zweimaligen Schaflaut.
Sie gingen und gingen. Sie wanderten. Sie schritten. Sie latschten. Sie zogen weiter. Sie setzten einen Fuß vor den nächsten. Schritt folgte auf Schritt. Maria hüpfte zwischendurch, aber nur kurz.
Sie überstiegen Stein für Stein, grau auf grau. Irgendwann schlich sich Byrger an Abaris ran. Sehr langsam kam er ihm näher, als wolle er Abaris heimlich die Taschen leeren. Er räusperte sich.
»Dieser Ort ist ein wahrer Schrecken. So kalt... auf der Seele... als hätte jemand das Nirgendwo gestohlen und uns in der Leere abgesetzt.«
»Ihr spürt es also auch? Ist es magisch? Ist es womöglich der Schatz?«, fragte Abaris.
»Nein«, sagte Byrger, vielleicht hörte Abaris ein wenig Betrübtheit heraus, »Mit Magie hat dies gewiss nichts zu tun. Ich hörte von Orten wie diesen, dort wo sich Welten überschneiden. Leben und Tod. Sein und Nichtsein. Körper und Geist. Möglich, dass wir an solch einen Ort gelangt sind.«
»Ihr meint die Geisterwelt?«
»Nein, das hier ist noch etwas anderes. Nicht einmal Geister wollten diesem Ort innewohnen.«
Sie mussten nun schon Tage unterwegs sein. Es war kalt. Nein, heiß. Oder doch kalt? Abaris zitterte fürchterlich vor Kälte, beim nächsten Schritt schwitzte er wie in den wärmsten Tagen auf Salamina. Ihm wurde übel und alles fing an sich zu winden. Ging es bergab? Wo war der Gipfel? Abaris sah ihn nicht mehr. Sie gingen bergab. Wo wollten sie hin? Abaris schwitzte. Der Schweiß gefror. Ein Schritt rauf, einer hinab. Wo ist links? Nein, nach rechts! Das Grau wurde grauer. Abaris griff danach. Es huschte davon.
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