Mitternachtslust
verzichten.« Bei dem Versuch, die Tür möglichst weit für ihn aufzureißen, stieß sie die Klinke heftig gegen die Wand.
»Okay, dann gehe ich jetzt.« Er zögerte, als wollte er ihr Gelegenheit geben, es sich anders zu überlegen.
Melissa rührte sich nicht und sah stumm an ihm vorbei. Schließlich wandte er sich ab und lief, ohne sich noch einmal umzudrehen, den Flur entlang in Richtung Treppe.
Während sie ihm nachsah, überlegte Melissa, wie lange es wohl dauern würde, bis die Polizei vor ihrer Tür stand, wenn Alexander jetzt zum Revier fuhr und erklärte, er habe in der Nacht aus Mitleid mit seiner verrückten Nachbarin gelogen. Im Grunde war es ihr egal, was dann mit ihr passierte. Sie ging zu ihrem Bett zurück, legte sich hinein und zog sich die Decke über den Kopf.
»Bist du sicher, dass ich dich allein lassen kann?« Susanne sah Melissa besorgt an. Seit sie vor zwei Stunden auf Melissas Anruf hin hier eingetroffen war, kam Melissa sich vor wie eine aufgezogene Puppe. Sie bewegte sich steif und langsam, und die Worte kamen nur mühsam über ihre Lippen. Sie spürte nichts, keine Wut, keine Trauer, einfach nichts.
Nun nickte sie langsam, wie in Zeitlupe. »Fahr ruhig. Es gibt nichts, wovor ich mich fürchten müsste. Und dein Jochen wartet sicher schon ungeduldig auf dich.«
»Er versteht, dass du mich in dieser Situation dringender brauchst als er. Wenn du willst, könnte ich noch ein oder zwei Tage bleiben. Ich habe noch Urlaub, und Jochen würde dann einfach allein nach Hause fahren.«
Melissa schüttelte den Kopf. »Das ist wirklich lieb von dir, aber du hast doch ohnehin so wenig Urlaub, und im Grunde kannst du mir nicht helfen. Da muss ich allein durch.«
»Hast du denn keine Angst in dem großen Haus, nachdem …« Susanne stockte und ließ ihren Blick durch das Zimmer wandern, als würde sie jeden Moment mit dem Auftritt jenes Geistes rechnen, von dem Melissa ihr ausführlich erzählt hatte.
»Er würde mir niemals etwas tun.« Melissa legte eine Pause ein und sah nachdenklich durch das Fenster in den regnerischen Tag hinaus. Dann wandte sie sich wieder ihrer Freundin zu: »Glaubst du mir die Sache mit dem Geist wirklich? Oder widersprichst du mir nur nicht, weil ich dir leidtue?«
Erstaunt richtete Susanne sich in ihrem Sessel auf. »Sollte ich nicht? Hast du das alles erfunden, damit du nicht vor Gericht musst?«
»Nein, nein, ich habe mir das nicht ausgedacht, aber schließlich ist es nicht gerade alltäglich, mit einem Geist zusammenzuleben.« Melissa suchte Susannes Blick. »Und wenn dann jemand wie ich auch noch behauptet, dieser Geist habe einen Mord begangen …«
»Ich glaube, du hast genug Vertrauen zu mir, um mir die Wahrheit zu sagen, selbst wenn du Richard eigenhändig getötet hättest«, erklärte Susanne mit fester Stimme.
»Und du hältst mich nicht für verrückt?«
Susanne schüttelte heftig den Kopf. »Die Geschichte hört sich verrückt an, aber das heißt ja nicht, dass du deine Sinne nicht beisammenhast.«
»Du glaubst mir also! Und wie kann dieser Typ sich erlauben, mit mir im Bett zu liegen, all diese Dinge mit mir zu machen und dann zu sagen, ich sollte jetzt endlich mit meinen Gespenstergeschichten aufhören?« Als sie an ihren morgendlichen Streit mit Alexander dachte, schnaubte Melissa vor Wut.
»Von wem redest du? Von deinem Nachbarn, der zufällig vorbeikam und dir quasi ein Alibi gab, indem er der Polizei erzählte, er hätte einen Einbrecher auf der Flucht gesehen und du wärst oben im Haus gewesen?« Susanne richtete sich gespannt auf. Natürlich hatte sie sofort vermutet, dass sich hinter dem Nachbarn, der Melissa so selbstlos zur Seite gestanden hatte, mehr verbarg. Persönliche Geständnisse waren Melissa auch der Freundin gegenüber schon immer schwergefallen, aber früher oder später rückte sie schließlich doch mit den Einzelheiten heraus. Das war schon immer so gewesen.
»Du hast mit ihm geschlafen?«, hakte Susanne vorsichtig nach, als Melissa weiter stumm durch das Fenster in den Regen hinaussah.
»Ja. Es … es hat sich so ergeben. Warum sollte ich auch nicht, nachdem Richard mich von vorn bis hinten betrogen hat?«
»Habe ich irgendetwas dagegen gesagt?« Susanne hob die Hände, als müsste sie ihre Unschuld beteuern. »Und wie war’s?«
»Es spielt absolut keine Rolle, wie es war. Er hält mich für verrückt. Für ihn gibt es nicht den geringsten Zweifel, dass ich mir Julius entweder ausgedacht oder eingebildet habe. Für ihn
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