Mitternachtslust
drängte eine Bedienung im weißen Schürzchen ihr ein Glas Sekt auf.
Auf der Suche nach Alexander schob Melissa sich durch die Besucher, die in kleinen Grüppchen mit gewichtigen Mienen über Kunst plauderten. Der Künstler war weit und breit nicht zu sehen.
»Entschuldigen Sie!«, wandte Melissa sich an eine gut konservierte Fünfzigerin, die aussah, als sei sie auf den Vernissagen dieser Welt zu Hause. »Wissen Sie, wo Herr Burg sich aufhält?«
»Oh, Sie sind auf der Suche nach Alexander? Ist er nicht ein Schatz?«
Melissa nickte verblüfft.
»Was sagen Sie zu diesem Bild? Ich ziehe in Erwägung, es zu kaufen.« Offensichtlich froh, ein Opfer gefunden zu haben, zog die Frau Melissa mit sich zur Wand und zeigte ihr das Gemälde einer fast nackten Blondine mit laszivem Blick. »Sieht sie mir nicht ein wenig ähnlich?«
Bevor sie fassungslos nickte, stärkte Melissa sich mit einem Schluck Sekt. »Ein bisschen schon, denke ich. Die Haarfarbe …«
»Genau! Genau!« Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete die Frau im teuren Designerkostüm das Aktgemälde. »Und schließlich ist es ja auch eine gute Geldanlage.«
»Ja, sicher. – Wissen Sie denn, wo Herr Burg ist?«, wiederholte Melissa ihre Frage. »Ich muss ihn dringend sprechen.«
»Alexander ist …« In ihrem Bemühen, als enge Vertraute des Künstlers zu gelten, ließ die Kunstkennerin verzweifelt ihren Blick durch den Raum schweifen.
»Vorhin habe ich mich noch mit ihm unterhalten. Er war reizend wie immer«, erzählte sie aufgeregt. »Da hinten neben der Säule hat er gestanden, seitlich von Liebesfrühling .« Sie deutete ans andere Ende des überfüllten Ausstellungsraumes.
»Vielen Dank.« Ihr Glas vor sich hertragend, als könnte sie damit die Menschenmenge teilen, drängelte Melissa sich zu der gegenüberliegenden Wand durch. Allerdings war auch hier nichts von Alexander zu sehen.
»Kann ich Ihnen helfen?« Der Mann, der ihr in einer routinierten Mischung aus Freundlichkeit und Zurückhaltung diese Frage gestellt hatte, sah so gut aus, dass Melissa fast erschrak, als sie seiner ansichtig wurde. Über einem Brustkorb, dessen beachtliche Wölbung selbst unter dem gut sitzenden dunkelblauen Anzug nicht zu übersehen war, saß auf breiten Schultern ein Kopf, der, wenn auch von schwarzen statt von blonden Locken gekrönt, eines Engels würdig gewesen wäre. Melissa konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor ein männliches Wesen mit so ebenmäßigen Gesichtszügen und so tiefblauen Augen, beschattet von unglaublich langen, dunklen Wimpern, gesehen zu haben.
»Äh, ja … ich suche Alexander Burg – den Maler, meine ich.« Mit einer hilflosen Geste schwenkte sie ihr Glas in Richtung einiger Frauenakte, die nicht weit von ihr entfernt die weiße Wand schmückten.
»Sie sind nicht zufällig Melissa?« Als er lächelte, entblößte er makellose Zähne.
»Woher wissen Sie das?«, erkundigte sie sich ängstlich. War der Engel mit übersinnlicher Begabung ausgestattet? Sie hatte entschieden genug von logisch nicht erklärbaren Phänomenen.
»Er hat Sie mir beschrieben und gesagt, ich solle Sie zu ihm bringen, sobald Sie auftauchen.«
Melissas Erleichterung mischte sich mit Ärger. Wie kam Alexander darauf, dass sie herkäme, nur weil er ihr eine unverbindliche Einladung in den Briefkasten gesteckt hatte!
»Das trifft sich gut!«, stellte sie fest. »Ich habe nämlich mit ihm zu reden.«
»Folgen Sie mir bitte!« Der Erzengel drehte sich um und war im nächsten Augenblick in einem engen türlosen Durchgang zwischen zwei Bildern verschwunden, auf denen ausnahmsweise keine nackten Frauen, sondern Blumen in warmen flammenden Farbtönen dargestellt waren.
Der Ausstellungsraum, in dem Melissa sich befand, nachdem sie die Bilder passiert hatte, war wesentlich kleiner als der vordere und nicht so belebt. Hierher hatten sich nur vereinzelte Kunstliebhaber verlaufen, die sich tatsächlich mehr für die Bilder zu interessieren schienen als dafür, ihre Zugehörigkeit zum exklusiven Zirkel der wohlhabenden Kunstfreunde zu demonstrieren. Die meisten von ihnen gingen stumm und gedankenverloren von einem Bild zu anderen und kümmerten sich nicht um den Künstler, der, halb verborgen hinter einem riesigen bizarren Stachelgewächs, auf einem niedrigen Stuhl aus Plexiglas kauerte, der ebenfalls mehr zum Anschauen als zum Sitzen gedacht zu sein schien.
Als er Melissa sah, sprang er auf und eilte auf sie zu, ohne sich darum zu kümmern, dass er den wackeligen
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