Mitternachtslust
Staubkörnchen in der Luft über den Umzugskartons tanzen.
Als Erstes musste sie sich nach den Küchenutensilien umsehen, denn Richard hatte für den Abend eine Stippvisite angekündigt. Er hatte nicht vor, die Nacht hier zu verbringen, solange dieses Haus weit davon entfernt war, ein komfortables Heim darzustellen. Aber er würde »nach dem Rechten sehen«, wie er es ausgedrückt hatte, und mit ihr gemeinsam zu Abend essen.
Dennoch beschloss Melissa, dass viel dringender als alles andere im Augenblick ein heißes Bad war, in dem ihre verkrampften Muskeln sich entspannen konnten.
Sie lief die Treppe zum ersten Stock hinauf, wühlte in ihrem Kosmetikköfferchen nach Schaumbad und Shampoo und drehte im Bad neben ihrem Schlafzimmer den Wasserhahn weit auf.
Zum Glück war sie klug genug gewesen, einen Installateur zu beauftragen, die Wasserleitungen, die Boiler und die Heizungsanlage im Keller zu überprüfen. Das Wasser, das in einem breiten Strahl aus dem Hahn sprudelte, war dampfend heiß, klar und sauber.
In ihrem Schlafzimmer schlüpfte Melissa aus ihren staubigen Sachen, die sie einfach auf dem Fußboden liegen ließ, und eilte zurück ins Bad. Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ sie sich in das warme duftende Wasser gleiten, schloss die Augen und genoss die Wärme und die Ruhe, die durch das leise Knistern des Badeschaums noch unterstrichen wurde.
Schon nach wenigen Minuten spürte sie, wie ihre schmerzenden Muskeln sich entkrampften und ihre Lebensgeister zurückkehrten. Sie streckte erst das rechte, dann das linke Bein senkrecht nach oben und beobachtete, wie der Schaum langsam an ihrer noch winterlich blassen Haut nach unten rutschte, bis er sich wieder mit den duftigen Bergen auf der Wasseroberfläche vereinte.
Wie immer konnte sie nicht widerstehen, holte tief Luft und ließ sich am Kopfteil der Wanne nach unten rutschen, bis ihr Kopf unter Wasser war. Sie liebte das Gefühl, sich in einer fremden, warmen, dunklen Welt zu befinden, in der es außer dem leisen Gluckern in ihren Ohren nur ein großes Nichts gab.
Im selben Moment, in dem sie leise prustend wieder auftauchte, meinte sie, ein Knarren oder Krachen zu hören. Mit angehaltenem Atem lauschte sie in das stille Haus. Sie war nicht sicher, ob sie sich das Geräusch nur eingebildet hatte, weil der Schaum in ihren Ohren knisterte.
Nachdem sie ein oder zwei Minuten regungslos die Tür angestarrt hatte, beschloss sie, dass ihr entweder das Wasser in ihren Ohren ein Geräusch vorgegaukelt hatte oder aber die Balken und Dielen des Hauses führten ein lautstarkes Eigenleben, wie es ja häufig in alten Häusern der Fall sein sollte.
Sie griff nach dem Shampoo, wusch sich die Haare, spülte sie sorgfältig aus, duschte ihren Körper ebenfalls lauwarm ab und stieg aus der Wanne.
Nachdem sie sich abfrottiert hatte, ging sie nackt hinüber in ihr Schlafzimmer. Erst hier fiel ihr ein, dass die Koffer, in denen sie die Wäsche verstaut hatte, noch unten in der Halle standen. Außer den verschwitzten, schmutzigen Kleidungsstücken auf dem Fußboden und einem feuchten Handtuch hatte sie nichts, um ihre Blöße zu bedecken, was allerdings nicht weiter ins Gewicht fiel, da sie völlig allein im Haus war.
Warum fühlte sie sich aber so unbehaglich, während sie zur Tür huschte, sie öffnete und prüfend den Kopf in den Flur hinausstreckte? Hatte sie nicht vor kurzem noch über ihr neues, ungehemmtes Ich nachgedacht? Und nun sollte sie plötzlich Probleme damit haben, unbekleidet durch ein leeres Haus zu laufen?
Sie warf den Kopf in den Nacken, öffnete weit die Tür und ging los – direkt auf den altersfleckigen Spiegel in einer Nische des Flurs zu. Da es bereits dunkel wurde und die kleinen Wandlampen nur sehr spärliches Licht spendeten, war es natürlich eine Sinnestäuschung, dass sie einen Moment lang den Eindruck hatte, sie wäre nicht nackt, sondern trüge ein langes helles Kleid, das sich eng an ihren Oberkörper schmiegte und locker um ihre Beine bis hinab auf den Boden fiel. Eigentlich war sie auch noch viel zu weit von dem Spiegel entfernt und das Licht entschieden zu schwach, um Einzelheiten erkennen zu können. Dennoch erschien ihr ihr eigenes Gesicht mit den nassen streng zurückgekämmten Haaren fremd. Nein, nicht wirklich fremd, aber es hatte einen völlig anderen Ausdruck, als sie ihn sonst von ihrem Spiegelbild kannte. Die Augen waren riesengroß und voller Trauer und der Mund unschuldig wie der eines sehr jungen Mädchens.
Melissa
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