Mitternachtslust
wundert? Richard hat sich das Haus inzwischen angeguckt und ist begeistert. Na ja, im Grunde ist es nicht besonders erstaunlich, denn das Gebäude war einmal der Wohnsitz einer wohlhabenden Hamburger Kaufmannsfamilie, das habe ich inzwischen herausbekommen. Aber mittlerweile ist die Villa ein bisschen heruntergekommen und der Park verwildert. Trotzdem findet Richard unsere neue Unterkunft durchaus akzeptabel.«
Melissa hatte trotz der Umzugsvorbereitungen Zeit gefunden, sich in der Bibliothek Bilder von Häusern anzusehen, die ebenfalls um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts erbaut worden waren. Dabei hatte sie festgestellt, dass ihr neues Zuhause nicht nur den typischen Baustil jener Zeit widerspiegelte, sondern auch ein besonders schönes Beispiel für die damalige Architektur verkörperte.
»Ja, dann …«
Ein wenig verlegen standen die Freundinnen einander gegenüber. Keine von ihnen mochte sich als Erste abwenden, um diesem Abschied ein Ende zu bereiten.
»Versprichst du mir etwas, Melissa?«, fragte Susanne schließlich.
»Was denn?«
»Wenn du es nicht mehr mit ihm aushältst, dann setzt du dich sofort ins Auto und kommst zu mir. Das Geld ist nicht so wichtig. Du schaffst es auch so!«
Melissa nickte stumm. Inzwischen war sie es müde, ihrer Freundin immer wieder zu erklären, dass die Durchführung ihres Plans nicht so schwierig war, wie sie zu Beginn selbst befürchtet hatte.
»Okay.« Susanne breitete die Arme aus und zog Melissa an sich. Ein oder zwei Minuten verharrten die beiden Frauen in enger Umarmung, dann löste Melissa sich, schniefte sehr unvornehm und lief um ihr Auto zur Fahrertür.
»Wir telefonieren!«, rief sie Susanne zu. »Und wir besuchen einander! Halt die Ohren steif!«
»Du auch!«
Im Rückspiegel sah Melissa, wie Susanne, die Hände in den Jackentaschen, dastand und ihr nachschaute.
Melissa drückte dem Wortführer der Möbelpacker einen Umschlag mit einem nach Richards Meinung wahrscheinlich viel zu hohen Trinkgeld in die Hand. Aber sie hatte ihren Mann nicht um seine Meinung gefragt, und sie fand, dass die Männer sehr hart gearbeitet und eine Anerkennung verdient hatten.
»Viel Glück im neuen Heim!«, wünschte ihr der Chef der drei schrankbreiten Männer, nachdem er verstohlen in das Kuvert gelinst hatte.
»Von mir auch«, fügte der jüngste der Männer hinzu, der den ganzen Tag in ihrer Gegenwart kein einziges Wort gesprochen hatte. Allerdings hatte sie ihn mehrmals dabei ertappt, wie er sie mit hungrigen Blicken betrachtete.
Im Laufe des Nachmittags war sie dazu übergegangen, den schweigsamen Adonis, der ohne die geringste Anstrengung die schweren Ledersessel oder die großen Bücherkisten hochstemmte, viel häufiger anzusehen als seine Kollegen. Durch sein dünnes T-Shirt konnte sie das Spiel seiner Muskeln sehen, und ein oder zwei Mal dachte sie darüber nach, wie es wohl wäre, wenn sie ihn nach getaner Arbeit einlud, zu bleiben. Wie würde es sein, seinen kräftigen Bizeps zu umfangen, ihren Busen an seinem steinharten Brustkorb zu reiben, ihn zum Sprechen und vielleicht auch zum Stöhnen zu bringen? Ob er überall an seinem Körper so überdimensional gebaut war wie an den Stellen, die sie unter seinem Overall deutlich erkennen konnte?
An diesem Punkt ihrer Überlegungen hatte Melissa den Kopf geschüttelt und sich gezwungen, über praktische Dinge nachzudenken. Zum Beispiel darüber, ob die beiden Korbsessel im Frühstückszimmer oder lieber in ihrem Schlafzimmer vor dem Kamin stehen sollten.
Was war nur in letzter Zeit mit ihr los? Früher hatte sie nie sexuelle Fantasien gehabt und schon gar nicht im Zusammenhang mit wildfremden Männern. Aber früher hätte sie auch niemals einen One-Night-Stand in Erwägung gezogen, und heute empfand sie bei dem Gedanken an die Nacht mit Christian im Hotel nicht die geringste Scham. Sie hatte sich verändert, und sie konnte mit dieser Veränderung durchaus leben.
Melissa lehnte in der offenen Haustür und beobachtete die Männer, die in die Fahrerkabine des Möbelwagens kletterten. Der schweigsame Adonis drehte sich noch einmal um und lächelte ihr zu. Seine Zähne waren ebenso kräftig und gesund wie der Rest seines Körpers. Melissas Lächeln verblasste erst, als der Lkw in einer stinkenden Abgaswolke verschwunden war.
Dann ging sie zurück ins Haus und schloss sachte die Tür hinter sich. Die Strahlen der Abendsonne fielen durch das große runde Fenster über der Haustür und ließen Myriaden von
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