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Mitternachtslust

Mitternachtslust

Titel: Mitternachtslust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E Winter
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Paar, das dort nebeneinander auf der Fensterbank lehnte, sah aus, als hätte es sich während der vergangenen zehn Jahre nicht von der Stelle gerührt. Die Blicke unverwandt auf die Straße hinuntergerichtet, die Arme auf dicke Sofakissen gestützt, die Gesichter ausdruckslos, konnte man die beiden mit Wachsfiguren verwechseln, so bewegungslos verharrten sie auf ihrem Platz. Melissa hatte das Paar in aller Seelenruhe aus verschiedenen Blickwinkeln fotografieren können, wobei sie das aufgeregte Flattern in ihrer Brust fühlte, das sie immer überkam, wenn sie spürte, dass sie gerade dabei war, gute Bilder zu machen.
    Nun aber – sie konnte ihr Glück kaum fassen – war zwischen den Ellenbogen auf der Fensterbank der schwarze Kopf eines Hundes aufgetaucht, der ebenfalls auf die Straße zu hinunterzublicken schien. Mit angehaltenem Atem hob sie die Kamera – nur um festzustellen, dass sie einen neuen Film einlegen musste. Darin bestand einer der Nachteile ihrer Leidenschaft für die alte Spiegelreflexkamera. Mit einer ihrer neuen Digitalkameras, die sie zu Hause gelassen hatte, wäre dieses Problem nicht aufgetaucht.
    Während sie direkt neben mehreren auf der Baumscheibe liegenden Hundehaufen hockte und mit fliegenden Händen in ihrer Tasche wühlte, flehte sie im Stillen den schwarzen Hund an, sich nicht von der Stelle zu rühren. Sie wusste, dass sie nicht länger als höchstens zwei Minuten brauchte, um den Film zu wechseln. Zwei Minuten waren keine lange Zeit – aber wie lange dauerten zwei Minuten für einen Hund, der auf den Hinterbeinen stand und auf eine Straße hinunterschaute, auf der es außer ein paar Autos und zwei oder drei Fußgängern nicht viel zu sehen gab?
    Endlich war die Kamera wieder einsatzbereit. Melissa riss sie hoch, zielte auf das Fenster im ersten Stock und ließ sie enttäuscht wieder sinken. Der Hundekopf war verschwunden, während die Frau in der bunten Kittelschürze und der Mann mit dem schütteren Haar und der grauen Strickjacke immer noch mit unbewegten Gesichtern auf die Straße hinunterschauten.
    Melissa wartete noch einige Minuten an den Baumstamm gelehnt, ob der Hundekopf wieder auftauchen würde, dann gab sie auf, schob die Kamera in ihre Tasche und stapfte verdrießlich davon. Plötzlich merkte sie, wie hungrig sie war und wie sehr ihre Füße schmerzten. Sie war seit mehr als fünf Stunden in der Stadt unterwegs, hatte auch einige durchaus interessante Motive gefunden, aber das alles galt nicht mehr viel, nachdem ihr das außergewöhnliche Bild eben durch die Lappen gegangen war.
    Vor einiger Zeit war sie auf ihrem Streifzug an einem Imbiss vorbeigekommen, wo sie unbemerkt Fotos von einer alten nahezu zahnlosen Frau gemacht hatte, die fast unzerkaut eine Currywurst verschlang.
    Melissas Orientierungssinn war nicht besonders ausgeprägt, sodass sie einige Zeit brauchte, um den Imbiss mit den drei ketchupbeschmierten Stehtischen wiederzufinden.
    In dem Augenblick, in dem der Geruch der angebotenen Speisen ihr in die Nase stieg, verlor sie schlagartig den Appetit, aber sie wusste, dass sie etwas essen musste, wenn sie wie geplant noch zwei oder drei Stunden auf Motivsuche durch die Straßen laufen wollte.
    Sie trug den rechteckigen Pappteller mit der Bratwurst, der eine pappige Brötchenhälfte Gesellschaft leistete, an einen der Tische und biss vorsichtig ein Stück von der fettigen Wurst ab, die immerhin besser schmeckte, als sie roch.
    »Sie sind wohl zum ersten Mal hier? Mit der Zeit gewöhnt man sich an den Geschmack.«
    Missmutig stellt Melissa fest, dass die Frau, zu der die muntere Stimme gehörte, eine riesige in Sauce schwimmende Currywurst direkt neben ihre Bratwurst gestellt hatte, obwohl die beiden anderen Tische frei waren.
    »Es stört Sie doch nicht, wenn ich mich zu Ihnen stelle? Mir schmeckt es allein nicht besonders.«
    Melissa zögerte nur kurz und schüttelte dann den Kopf, obwohl sie lieber allein gegessen hätte, müde und zerschlagen, wie sie sich fühlte.
    »Essen Sie öfter hier?«, erkundigte sie sich höflich.
    »Könnte man so sehen.« Die Fremde warf ihre langes feuerrotes Haar schwungvoll über die Schultern zurück und piekste mit der Plastikgabel ein Stück Currywurst auf. »Ich lebe erst seit ungefähr vier Wochen hier in Hamburg, und seither ist dieses lauschige Plätzchen sozusagen mein Stammlokal – bis ich mir etwas Besseres leisten kann.« Sie zwinkerte Melissa fröhlich zu.
    Wie immer, wenn sie das Gefühl hatte, dass die Unterhaltung

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