Mitternachtslust
Stirn starrte Melissa die Frau mit den langen roten Haaren und den wissenden Augen an.
»Natürlich kommst du zu unserem Maskenball!«, entschied sie energisch. Mit einer kantigen Bewegung hob sie das Plastikbecherchen zum Mund und leerte es bis zum letzten Tropfen. Dann kramte sie aus ihrer Umhängetasche eine der zartgrünen Visitenkarten hervor, die sie sich nach dem Umzug hatte drucken lassen. Sie trug immer welche bei sich, falls sich berufliche Möglichkeiten ergaben, ein Auftrag als Fotografin zum Beispiel. Das hatte sie Richard abgeguckt. Auf die Rückseite kritzelte sie Datum und Uhrzeit des geplanten Festes.
»Eine gedruckte Einladung habe ich jetzt leider nicht bei mir«, erklärte sie und drückte Natascha die Karte in die Hand. »Das Motto lautet › Neunzehntes Jahrhundert‹, aber es ist natürlich kein Problem, wenn du kein Kostüm aus dieser Zeit hast. Ein normales Abendkleid tut es auch.«
Natascha kicherte. »Du wirst dich wundern. Wir haben in der Bar einen beeindruckenden Kostümfundus. Wegen der Bühnenauftritte – und natürlich auch wegen der Freier, die manchmal ziemlich ausgefallene Wünsche haben. Eine Dame aus dem neunzehnten Jahrhundert ohne Unterwäsche ist da noch harmlos. Obwohl ich natürlich zu dem Ball was drunterziehen werde.«
»Gut.« Melissa lachte ebenfalls und hielt sich dabei vorsichtshalber an der Kante des Stehtisches fest, weil sie plötzlich bemerkte, dass ihr die Schnäpse offensichtlich direkt in die Beine gewandert waren.
»Hier.« Nachdem sie ebenfalls in ihrer Tasche gekramt hatte, schob Natascha ihr über die fleckige Tischplatte eine bunt bedruckte Karte zu.
Puppenstube – Dancing, Girls and more stand darauf zu lesen. Den unteren Teil des Kärtchens schmückte die Zeichnung einer vollbusigen, langmähnigen, spärlich bekleideten Blondine.
»Da kannst du mich erreichen, falls du es dir anders überlegst.«
Obwohl sie sicher war, dass sie die Einladung auf keinen Fall zurücknehmen würde, schob Melissa die Karte in ihre Jackentasche.
»Ich muss jetzt gehen. Um sechzehn Uhr habe ich einen Auftritt.« Natascha hängte sich den Riemen ihrer Tasche über die Schulter.
»Ja, dann … Bis Samstag!« Die Frauen schüttelten sich zum Abschied die Hände.
Melissa sah ihrer neuen Bekannten nach, die in ihren flachen Schuhen, bekleidet mit einer schlichten beigefarbenen Stoffhose und einer dunkelbraunen Lederjacke, rasch davonging. Trotz ihrer unauffälligen Kleidung versprühte sie aus jeder Pore Sex. Fast beneidete Melissa sie. Natascha schien frei und unabhängig zu sein. War es möglich, dass eine Stripperin ein glücklicheres Leben führte als sie in ihrem großen, schönen, geheimnisvollen Haus?
Melissa schüttelte den Kopf, um die merkwürdigen Gedanken daraus zu vertreiben. Dann fragte sie den Mann im Imbisswagen nach dem nächsten Taxistand. Sie war müde und ein wenig betrunken und sehnte sich plötzlich danach, zu Hause vor dem Kamin zu sitzen.
9. Kapitel
Melissa beschloss, den Abend zu nutzen, um sich nach Kostümen umzusehen, die Richard und sie auf der Einweihungsparty tragen konnten.
Sie hatte sich bereits telefonisch bei einem Kostümverleih nach passenden Kleidungsstücken für das geplante Thema erkundigt. Die freundliche Dame am Telefon hatte ihr überschwänglich erklärt, eine Ballgarderobe, wie sie zu jener Zeit getragen worden war, stelle überhaupt kein Problem dar. Die angebotenen Kostüme seien nach Originalvorlagen nachgeschneidert. Diese Bemerkung hatte Melissa daran erinnert, dass es in diesem Haus mehrere bis unter die Decke vollgestopfte Abstellkammern gab, die offensichtlich seit Ewigkeiten nicht entrümpelt worden waren. Wieso sollten dort nicht auch alte Kleider lagern?
Nachdem sie kurz überlegt hatte, nahm sie sich als Erstes die kleine Kammer neben der alten Wirtschaftsküche vor. Früher hatte es sich hierbei um die Speisekammer gehandelt. Als Melissa die Tür öffnete, meinte sie den würzigen Geruch von geräuchertem Schinken und Würsten wahrzunehmen. Eine ganze Reihe von Würsten hatte an der Stange gehangen, die an der hinteren Wand des fensterlosen Raumes entlangführte. Die Schinken und das gepökelte Fleisch hatten ihren Platz dort im Regal gehabt, gleich neben den Einmachgläsern …
Eine leichte Berührung an ihrer Schulter ließ sie zusammenzucken. Natürlich war das wieder Zugluft gewesen. Energisch strich sie mit der flachen Hand über den dünnen Stoff ihrer Bluse und trat in den kleinen, mit Kisten,
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