Mitternachtslust
alte Villa, Baujahr 1852. Deshalb dachten wir uns, es wäre nett, ein Kostümfest zu veranstalten. Wenn du Lust hast, zu kommen … Ich würde mich freuen und mein Mann sicher auch. Wir kennen in Hamburg noch so gut wie niemanden – außer den Geschäftsfreunden meines Mannes natürlich. Es wäre wirklich schön, dich dabeizuhaben.«
Normalerweise schloss Melissa nicht rasch Freundschaft, und sie kam sich ziemlich tollkühn dabei vor, eine Frau einzuladen, die sie seit genau zehn Minuten kannte.
»Ein Kostümfest?« Natascha lächelte. Offensichtlich gefiel ihr der Gedanke, sich zu verkleiden.
Melissa hatte Richard den Vorschlag, die Hauseinweihung als Maskenball zu feiern, nur zögernd unterbreitet. Der Gedanke war ihr unvermittelt gekommen. An einem stillen Nachmittag hatte sie das Kaminbesteck geputzt und dabei Radio gehört. Es war eine Reportage gesendet worden, die mit Tanzmusik unterlegt war, ihr Blick war durch die Halle geschweift und plötzlich hatte sie verkleidete Menschen vor sich gesehen: Frauen in langen altmodischen Ballkleidern und mit Halbmasken, die die Augenpartien ihrer Gesichter verbargen, und Männer in strengen dunklen Anzügen, einige sogar in Piraten- oder Harlekinkostümen.
Zu ihrem Erstaunen hatte Richard die Idee gefallen. »Das ist mal was anderes. Die Leute werden sich noch nach Monaten an dieses Fest erinnern.« Zufrieden nickte er. »Du sorgst dafür, dass wir beide die passenden Kostüme haben, nicht wahr? Sie sollten zu der Zeit passen, zu der dieses Haus erbaut wurde.«
Melissa hatte verblüfft genickt. Manchmal schaffte er es doch noch, sie in Erstaunen zu versetzen.
»Ich würde gern kommen«, unterbrach Natascha ihre Gedanken. »Sicher ist es ein großer Spaß, sich zu verkleiden. Allerdings …« Sie stockte.
»Ich würde mich wirklich freuen.« Melissa stellte erstaunt fest, wie wichtig es ihr war, dass Natascha kam.
»Du weißt kaum etwas über mich …«
»Vielleicht finden wir während der Party ein bisschen Zeit, uns näher kennenzulernen.« Verlegen stapelte Melissa die Plastikgläschen übereinander.
»Zum Beispiel weißt du nicht einmal, womit ich mein Geld verdiene.«
»Nein, das weiß ich nicht. Ist das denn wichtig?« Melissa zuckte mit den Achseln und hoffte, Natascha würde begreifen, dass sie keine Vorurteile hatte. Es war ihr egal, ob jemand sein Geld in einer Fabrik oder in der Vorstandsetage eines internationalen Konzerns verdiente.
»Ich arbeite in einer Bar. Als Stripperin.« Natascha wandte ihren Blick keine Sekunde von Melissas Gesicht ab, während diese sich bemühte, das Zucken eines Nervs in ihrem linken Augenwinkel unter Kontrolle zu bekommen.
»Und manchmal – es kommt eher selten vor, ich mache es nur, wenn ich dringend Geld brauche und mir ein Mann sympathisch ist – gehe ich mit einem Gast nach oben aufs Zimmer.«
Melissa holte tief Luft und schwieg, weil sie nicht die geringste Ahnung hatte, was sie erwidern sollte.
»Meistens geht es mir ganz gut bei meinem Job. Das Tanzen macht mir Spaß und sonst … Was meinst du, wie viele Frauen Sex als Ware anbieten, ohne dass jemand auf die Idee käme, sie als Prostituierte zu bezeichnen?« Offenbar hatte Natascha das Gefühl, Melissa über den Schock hinweghelfen zu müssen.
Allerdings besaßen ihre Worte eher die gegenteilige Wirkung. Melissa zuckte zusammen und sah starr an Natascha vorbei, während sie an ihr neues Konto mit dem Kennwort Freiheit dachte. Aber natürlich konnte Natascha nichts über die Ehe einer Frau wissen, der sie nie zuvor begegnet war. Sie hatte nur eine ganz allgemeine Feststellung gemacht.
»Es geht niemanden etwas an, womit du dein Geld verdienst«, bemerkte Melissa schließlich und überlegte, ob sie nicht lieber noch einen Schnaps trinken sollte. »Das ist ganz allein deine Sache.«
Natascha grinste erleichtert. »So sehe ich das auch. Aber da du gesagt hast, zu der Einweihungsfeier kommen Geschäftsfreunde deines Mannes … Es könnte sein, dass einer von ihnen mich erkennt.« Ohne zu fragen, ging sie zum Imbisswagen hinüber, um zwei weitere Schnäpse zu holen. Einen davon stellte sie wortlos vor Melissa hin.
»In diesem Fall würde derjenige ja wohl in seinem eigenen Interesse nichts sagen« vermutete Melissa, nachdem sie die Hälfte der brennenden Flüssigkeit hinuntergegossen hatte.
»Da kennst du die Männer schlecht! Erst nehmen sie deine Dienste in Anspruch, und dann verachten sie dich für das, was du mit ihnen getan hast.«
Mit gerunzelter
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