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Mitternachtslust

Mitternachtslust

Titel: Mitternachtslust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E Winter
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Kästen und alten Koffern vollgestopften Raum.
    Die erste Kiste, die sie öffnete, enthielt altes Spielzeug. Nachdenklich betrachtete Melissa ein geschnitztes Holzpferd, eine pompös gekleidete Porzellanpuppe und einen Teddy, dem man ansah, dass er einmal sehr geliebt worden war.
    Das waren wunderschöne alte Sachen, deren Geschichte man fast in den Fingerspitzen spüren konnte, wenn man sie berührte. Das Holzpferd hatte einmal einem wilden Knaben mit funkelnden schwarzen Augen und wirren Locken gehört. Er hatte das Spielzeug stürmisch geliebt – zu stürmisch, denn dem Holztier fehlten der rechte vordere Huf und die Spitze des weißen Schwanzes. Die wunderschöne Puppe war wesentlich vorsichtiger behandelt worden. Mit dem Zeigefinger strich Melissa über die steifen Spitzen des verblichenen Puppenkleidchens und legte dann die Sachen in die Kiste zurück.
    Als Nächstes klappte sie einen großen Koffer auf. Zuerst war sie enttäuscht, als sie darin nur ordentlich gefaltete Tischdecken und Laken aus glattem Leinen fand. Doch dann ließ sie ihre Hände über die kühlen weichen Stoffe gleiten, die sich so viel besser anfühlten als die teure Bettwäsche, in der sie schlief. Sie nahm sich vor, später die Schätze in den verschiedenen Behältnissen genauer zu untersuchen. Jetzt brauchte sie vor allem Kostüme für den Ball.
    Um an eine große Kiste zu gelangen, die an der hinteren Wand stand, schob sie den Koffer beiseite. Als sie nach dem Deckel der Holzkiste griff, bemerkte sie etwas Großes, Flaches, das, in ein Leintuch eingewickelt, hinter der Kiste an der Wand lehnte.
    Neugierig schlug sie das weiße Tuch zurück. Zunächst sah sie nur die oberen Ränder von zwei Bilderrahmen, beide verschnörkelt und mit Blattgold verziert. Sie versuchte, die Bilder aus dem engen Spalt, in dem sie standen, herauszuheben, was nicht einfach war, weil es sich um große Gemälde in massiven Rahmen handelte.
    Fast wollte sie schon aufgeben, aber der Gedanke, vielleicht einen vergessenen van Gogh oder etwas ähnlich Aufregendes entdeckt zu haben, ließ sie noch einmal die Rücken- und Armmuskeln anspannen und mit einem leisen Stöhnen die Bilder anheben. Nun brauchte es nur noch einen Schritt rückwärts, um die Gemälde auf den freien Platz in der Mitte des Raumes zu wuchten.
    Als sie ihre von der Anstrengung schmerzenden Finger von den dicken Rahmen löste, kippte das eine Bild vorwärts gegen ihre Knie, während das andere rückwärts umfiel, sodass es mit der bemalten Seite nach oben auf dem Boden lag.
    Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete Melissa das Ölgemälde. Im ersten Moment war sie enttäuscht. Es handelte sich um ein Porträt. Das Porträt einer jungen Frau in einer weit ausgeschnittenen dunkelroten Abendrobe. Obwohl sie keine Kunstkennerin war, sah Melissa sofort, dass sie mit großer Wahrscheinlichkeit nicht das verschollene Werk eines berühmten Malers vor sich hatte, sondern eine Auftragsarbeit, die ein namenloser Künstler für die Familiengalerie ehemaliger Bewohner dieses Hauses geschaffen hatte.
    Wie so vieles, das sie in diesem Haus gesehen hatte, kam ihr auch das Bild seltsam bekannt vor. Wahrscheinlich lag es daran, dass alle derartigen Porträts einander ähnelten. Sie musste in Museen und auf Abbildungen schon Hunderte solcher Bilder lächelnder junger Frauen gesehen haben.
    Als sie am unteren Rand des vergoldeten Rahmens ein kleines Messingschild entdeckte, beugte Melissa sich vor, um die fein geschwungene Schrift darauf entziffern zu können.
    Annabelle – 1860 stand dort zu lesen.
    Vorsichtig hob sie Annabelles Porträt hoch und lehnte es gegen eine große Kiste neben der Tür. Dann griff sie nach dem anderen Gemälde und kippte es zurück, bis die Rückseite Halt an einem Überseekoffer fand.
    Der erste flüchtige Blick bestätigte ihre Vermutung, dass es sich auch bei diesem Bild um ein Porträt handelte. Als sie jedoch genauer hinsah, schnappte sie entsetzt nach Luft.
    »Das kann nicht sein!«, hörte sie sich selbst wispern.
    Bewegungslos stand sie da und sah das Bild an, unfähig, sich zu rühren, obwohl sie plötzlich das Gefühl hatte, es gäbe in dem kleinen Raum nicht genug Luft zum Atmen. Sie wusste, dass es eine Erklärung für diese Sache geben musste, versuchte krampfhaft, sie zu finden, und konnte immer wieder nur denken, dass so etwas unmöglich war.
    Ihr Blick saugte sich an dem kleinen Messingschild fest, das auch bei diesem Bild unten am Rahmen befestigt war. »Julius«,

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