Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mitternachtslust

Mitternachtslust

Titel: Mitternachtslust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E Winter
Vom Netzwerk:
festlich gekleideten Menschen gefüllt. Aber das Licht schien sanfter geworden zu sein, und als sie sich umschaute, bemerkte sie, dass die Strahler, mit denen einige Zimmerecken indirekt beleuchtet wurden, verschwunden waren. Stattdessen hatte sich die Zahl der Kerzen erhöht. Überall flackerten sie in dem leichten Luftzug, den die Bewegungen so vieler Menschen mit sich brachten: in den Leuchtern an den Wänden, aber auch auf verschiedenen kleinen Tischchen und Schränkchen, von denen Melissa einige zum ersten Mal sah.
    Sie wandte ihren Kopf und stellte ohne großes Erstaunen fest, dass auf den Stufen der Treppe ein tiefroter Läufer lag.
    Ihr Blick schweifte wie magisch angezogen weiter in die Höhe, bis sie auf der obersten Stufe den Mann im Piratenkostüm sah. Obwohl er im Schatten eines geschnitzten Stützbalkens stand, konnte sie erkennen, dass er hinter seinem schwarzen Bart lächelte. Dann hob er eine Hand und winkte ihr zu. Ganz kurz nur, aber diese vertrauliche Bewegung brachte die Flammen in ihrem Herzen zum Auflodern.
    »Warum antwortest du mir nicht?« Als Richards ungeduldige Stimme in ihr Bewusstsein drang, hatte Melissa das Gefühl, als würde er schon länger auf sie einreden.
    »Entschuldige, ich war in Gedanken.« Unauffällig sah sie zur Treppe hinüber, deren Holz hell im Licht einiger speziell angebrachter Strahler schimmerte. Auf der obersten Stufe stand niemand.
    »Ich werde den Ball mit Frau Schreibmüller eröffnen. Doktor Schreibmüller bittet dich, ihm die Ehre zu geben.« Da Melissa noch immer etwas verwirrt war, brauchte sie einen Moment, um zu begreifen, was Richard ihr mit dieser geschwollenen Formulierung sagen wollte. Dann fand sie sich auch schon Doktor Schreibmüller gegenüber, der gerade groß genug war, um ihr beim Tanzen direkt in den Ausschnitt sehen zu können.
    Ergeben ließ sie sich in die schlaffe Umarmung des Gnoms ziehen und versuchte so gut es ging, den Anschein zu erwecken, als würde sie sich mit ihrem Partner im Takt der Musik bewegen, obwohl der sicher in geschäftlicher Hinsicht durchaus fähige Mann sein Talent ganz offensichtlich nicht auf diesem Gebiet hatte.
    »Ein wirklich ganz reizender Abend!«, säuselte er, während er den Blick tief zwischen ihre Brüste tauchte.
    »Danke.« Krampfhaft versuchte Melissa, zu ignorieren, dass nur wenige Zentimeter Abstand zwischen seiner Nasenspitze und ihrem Brustansatz blieben.
    Als die Musiker nach einer kleinen Ewigkeit ihren Walzer beendeten, hatte Doktor Schreibmüller Melissa insgesamt drei Mal versichert, dieses Fest sei ein wahrer Glanzpunkt unter den Festen, die er bisher besucht habe. Außerdem hatte er ihr mehrmals erklärt, ihr Mann sei ein Gewinn für die Hamburger Geschäftswelt. Beides hatte sie wohlwollend lächelnd und huldvoll nickend zur Kenntnis genommen und dabei darüber nachgedacht, wie es wohl sein mochte, mit Alexander zu tanzen.
    »Vielen Dank für den wunderbaren Tanz!«, säuselte Doktor Schreibmüller, nachdem er sie galant zu einem freien Stuhl am Rand der Tanzfläche geführt hatte.
    Artig nahm sie inmitten raschelnder Seide Platz und bemühte sich um ein freundliches, einladendes Lächeln. Richard würde ungehalten sein, wenn sie nicht möglichst früh am Abend ihre Pflichttänze mit möglichst vielen, möglichst einflussreichen Männern absolvierte.
    Wie aus dem Nichts tauchte Alexanders Piratenkostüm vor ihr auf. Natürlich hielt er es nicht für nötig, sie zu fragen, ob sie mit ihm tanzen wollte, sondern zog sie einfach von ihrem Stuhl hoch und im nächsten Moment in einen Wirbel aus Bewegung, Rhythmus und vorbeihuschenden Lichtern.
    So war es also, mit ihm zu tanzen! Ein bisschen, wie ihn zu lieben. Ein Rausch, aus dem sie nie erwachen wollte, weil sie wusste, dass der Zweifel sein hässliches Gesicht heben würde, sobald es vorbei war.
    In Alexanders enger Umarmung wandte Melissa den Kopf, um in sein Gesicht zu sehen, aber auch seine Züge schienen sich vor ihren Augen im Taumel der raschen Drehungen, der an- und abschwellenden Musik und seiner berauschenden männlichen Nähe in ihre Bestandteile aufzulösen. Es gelang ihr nicht, sich auf sein Gesicht zu konzentrieren. Einmal sah sie nur das blitzende Auge über sich, dann den lächelnden Mund, halb verborgen unter dem wilden dunklen Bart, dann die gerade kräftige Nase oder die schwarze Augenklappe.
    Je länger der Tanz andauerte, desto weiter schienen sich die anderen tanzenden Paare, die Lichter, die Wände und die Decke der Halle

Weitere Kostenlose Bücher