Mitternachtsmorde
mein Leben weiterzuleben, aber ich glaube, sie selbst hat das nicht geschafft.«
»Nein«, bestätigte Nikita, und ihr Blick wandte sich nach innen, »das schafft keine Mutter.«
18
In der Bücherei gingen sie in einen kleinen, schmalen Raum, in dem nebeneinander drei Mikrofiche-Lesegeräte standen. Die Mikrofiches selbst wurden allerdings nicht in dem halbdunklen Leseraum, sondern draußen im Hauptsaal der Bücherei aufbewahrt, bewacht von einem gelangweilten jungen Mädchen, das aufpasste, ob sie ihre Namen und die Kennzahlen der entnommenen Mikrofiches in eine Liste eintrugen. Offenbar war es schon vorgekommen, dass jemand mitsamt den Mikrofiches aus der Bücherei spaziert war, obwohl es ein Rätsel war, wozu jemand das tun sollte, es sei denn, er hätte zu Hause ein Lesegerät stehen.
Knox und Nikita brauchten nicht Datei um Datei durchzugehen; Knox wusste genau, nach welcher Zeitungsausgabe er suchte: nach der vom 2. Januar 1985. Sie stellten zwei Stühle vor das Lesegerät, und dann suchte er auf dem Film nach dem Artikel, der ihm im Gedächtnis geblieben war. Nikita musste sich zur Seite lehnen, wenn sie mitlesen wollte, wodurch sie ihm so nahe kam, dass ihre Schulter an seiner ruhte. Er strahlte so viel Körperwärme ab, dass sie das Gefühl hatte, zu versengen und zu glühen, selbst wenn sie sich nicht berührten. Sie ertrug das Gefühl nur wenige Sekunden, dann musste sie auf Distanz gehen.
Er sah sie fragend an, und sie sagte: »Wenn ich so sitze, bekomme ich Genickschmerzen.«
»Du lügst«, erklärte er gleichmütig und schaute wieder auf den Schirm. »Du willst mich, aber du bist immer noch sauer auf mich, also willst du mich nicht wollen, und wenn du mich berührst, ist die Versuchung einfach zu groß. Liege ich damit in etwa richtig?«
»So ziemlich«, sagte sie ausdruckslos.
»Gut zu wissen«, antwortete er und zwinkerte ihr zu. »So, und jetzt rutsch wieder her, damit du mitlesen kannst.«
»Das brauche ich nicht. Lies einfach die Liste mit den Gegenständen vor, und ich schreibe sie auf und dazu alle Menschen, die dabei waren und an die du dich erinnerst oder die du wiedererkennst.« Sie hatte das Notizbuch vor sich liegen, das er für seine Ermittlungen verwendete, und er hatte sie angewiesen, nicht in ihrer geheimen Stenoschrift zu schreiben.
»Feigling.«
»Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.«
»Das hat auch ein Feigling gesagt.«
»Würdest du endlich den verdammten Artikel raussuchen?«, rief sie aus und sah sich sofort mit schlechtem Gewissen um, um festzustellen, ob sie jemanden aufgeschreckt hatte. Höchstwahrscheinlich nicht; in der Bücherei war nur eine Hand voll Menschen, und hier im Mikrofiche-Lesesaal war niemand außer ihr und Knox. Trotzdem merkte sie, wie sie vor Scham rot anlief; ihr ganzes Leben hatte sie ängstlich darauf geachtet, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Was sie so verstörte, war zum einen, dass sie um ein Haar an einem öffentlichen Ort geschrien hätte, und zum anderen, dass er nicht zu erkennen schien, wie tief sie das verstörte. Bevor er das verstehen konnte, würde sie etwas von sich erzählen müssen, und das hatte sie noch nie getan. Von frühester Kindheit an hatten ihre Eltern sie davor gewarnt, über ihre Ursprünge und ihren rechtlichen Status zu sprechen.
»Da haben wir’s«, sagte Knox leise. »Der Artikel ist von Max Browning. Er arbeitet immer noch für die Zeitung. Wir können ihm also ein paar Fragen stellen, wenn es nötig sein sollte. Mal sehen … unter den für die Zeitkapsel bestimmten Dokumenten war das Jahrbuch des Schuljahres 1984 der Pekesville Highschool, eine Audiokassette mit den Top Ten der Hitparade sowie ein Kassettenabspielgerät – da hat jemand mitgedacht –, Fotos und eine Zusammenfassung der Geschichte des Peke County, eine Kopie des Handelsregisters – obwohl ich beim besten Willen nicht weiß, wen das in hundert Jahren interessieren soll. Außerdem noch eine Ausgabe der örtlichen Zeitung. Das war’s.«
»Das sind nur sieben«, stellte sie fest.
»Mehr Gegenstände sind hier nicht aufgeführt. Im Artikel steht: ›Der Bürgermeister und andere werden zwölf Dokumente in die Zeitkapsel geben, darunter …‹ und dann folgt die Liste, die ich gerade vorgelesen habe. Die anderen fünf Dokumente werden nicht aufgeführt. Scheiße«, schloss er leise und frustriert.
»Wer war damals dabei?«
»Der Bürgermeister natürlich, Harlan Forbes, dann Taylor Allen, der Footballcoach Howard Easley, Edie
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