Mitternachtsschatten
vergessen.“
Er sagte kein Wort, sondern sah sie nur mit diesem rätselhaften Blick an.
„Was ist? Haben wir miteinander geschlafen oder nicht?“ hakte sie nach.
„Was glaubst du?“
Sie atmete tief ein und war seltsam erschüttert. Seit Tagen schon hatte sie dieses nagende Gefühl, Dinge zu erleben und Menschen zu treffen, die sie bereits kannte. So wie Coltrane. Vielleicht lag das ja an ihm. Dieses Gesicht aus ihrer Vergangenheit löste das alles aus.
„Nun denn, Rico“, sagte sie böse. „Wirst du mir jetzt endlich diesen Drink aus der Hand nehmen?“
Er schüttelte den Kopf. „Das musst du schon alleine tun,
chica
. Du musst das entscheiden.“
Chica
. Seit Jahren hatte niemand mehr sie so genannt. Consuelo hatte sie so gerufen, wenn sie ihr Schokoladenplätzchen und Milch gab. Sie stellte das Glas wieder auf den Tisch. „Gut“, sagte sie mit einem angestrengten Lächeln. „Meine Entscheidung. Lass uns verschwinden und alte Zeiten aufwärmen. Gehen wir zu dir oder zu mir?“
Endlich hatte sie es geschafft, ihn zu überraschen. Immerhin. „Das überlasse ich dir“, antwortete er schließlich.
„Du kannst fahren.“ Sie lief aus der Bar und war sich sicher, dass er ihr folgte.
11. KAPITEL
R ico griff über sie und befestigte den Gurt, dann schob er den Fahrersitz zurück, damit seine langen Beine Platz hatten. Rachel-Ann fiel erst jetzt auf, wie groß er war. Sie legte ihren Kopf zurück und schloss die Augen. Sie wollte nicht darüber nachdenken. Es war völlig egal. Sie hatte jemanden gefunden, der die Dunkelheit eine Weile lang fern halten konnte, sie musste nicht zurück ins La Casa und den Geistern ausweichen, und wenn sie Glück hatte, würde sie noch einen Tag länger nüchtern bleiben. Also war doch alles in bester Ordnung, nicht wahr?
Warum also schloss sie die Augen und versteckte sich vor ihm, als wäre er eine Bedrohung? Er fuhr sehr gut, aber sie wollte nicht sehen, wohin. Sie wusste, dass das ein Fehler war. Sie hatte sowieso nicht den besten Orientierungssinn, und wenn sie später nach Hause wollte, würde sie sich sicher verfahren. Aber auch das war egal. Je länger sie auf den Straßen des östlichen Los Angeles herumfuhr, umso länger würde es dauern, bis sie nach Hause kam. Allerdings hatte sie ja gar keine Ahnung, ob sie überhaupt Richtung Osten fuhren. Es war reine Voreingenommenheit, weil sie annahm, dass der Mann neben ihr Spanier oder Mexikaner war. Also würden Sie bestimmt in einer kleinen Wohnung in Century City enden.
Sie öffnete die Augen einen Spalt und sah, wie die Lichter der Stadt auf dem Armaturenbrett reflektierten. Dann blickte sie zu ihm. Er hatte ein schönes Profil. Eine starke Nase, eine hohe Stirn, seidiges schwarzes Haar und einen sympathischen Mund. Wenn sie sich richtig anstrengte, konnte sie sich vielleicht vormachen, dass er gefährlich war, denn mit einem Fremden nach Hause zu fahren war nicht so aufregend, wenn man sich dabei sicher fühlte.
„Woran denkst du?“ Er hatte bemerkt, dass sie ihn beobachtete, aber er hielt seinen Blick auf die überfüllten Straßen gerichtet. Er lenkte den Wagen selbstsicher durch den chaotischen Verkehr von Los Angeles.
„Du bist ein guter Fahrer“, sagte sie.
„Das liegt in meiner Familie. Mein Vater war Chauffeur.“
„Und was bist du? Was tust du, wenn du nicht zu den Anonymen Alkoholikern gehst und dort Frauen aufliest?“
„Üblicherweise lese ich keine Frauen auf“, antwortete er ruhig. „Ich arbeite im Los Angeles County Krankenhaus.“
„Als was?“
„In der Notaufnahme.“
„Du bist Krankenpfleger?“
„Wenn du so willst.“
Er begann, ihr auf die Nerven zu gehen. „Bist du immer mit allem einverstanden?“ fragte sie wütend.
„Nein. Frag mal meine Mutter. Ich kann eine ganz schöne Nervensäge sein. Ich bin nur zufällig sehr gut gelaunt.“
„Warum?“
Er sah sie an, nur ganz kurz, dann konzentrierte er sich wieder auf die Straße. „Weil ich mit dir zusammenbin.“
Sie grinste. „Ich habe dir bereits gesagt, ich will keinen Mann, der sich sofort in mich verliebt.“
„Kein Problem,
chica“
, murmelte er. „Ich verspreche es.“
Irgendetwas geschah hier, etwas lag in seinem Ton, das sie nicht verstand. Sie setzte sich aufrecht hin und sah ihn misstrauisch an. „Du bist nicht irgend so ein kranker Typ, oder? Ich stehe nicht auf SM oder irgendetwas in dieser Art. Ich suche nur ein wenig Vergessen. Und das bekomme ich durch Sex, wenn ich schon nicht zu Drogen
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