Mitternachtsschatten
heute weniger hilflos sein könnte als damals?“
„Du warst niemals hilflos, Rachel-Ann. Er hat dir das nur eingeredet. Du hast nicht wegen deiner Schwäche solche Probleme bekommen, sondern wegen deiner Stärke.“
„Das glaube ich nicht.“
Er küsste sie auf die Nase. „Ich weiß, dass du das nicht tust,
mi alma
. Und ich kann dich davon nicht überzeugen. Du musst das schon selbst herausfinden.“
Sie sah ihn an und versuchte sich gegen das zu schützen, was sie empfand. Ein sanftes, herzzerreißendes Bedürfnis, das sie noch nie zuvor empfunden hatte. Sie wusste genau, warum sie sich früher Männer gesucht hatte, und es hatte überhaupt nichts mit dem zu tun, was sie von Rico brauchte.
„Darf ich wiederkommen?“
„Natürlich. Ich habe dir den Schlüssel gegeben, nicht wahr?“ sagte er sanft.
„Kann ich hier mit dir leben?“
Er zögerte nicht eine Sekunde. „Ja.“
„Wirst du mich dazu überreden, AA-Meetings zu besuchen?“
Er schüttelte den Kopf. „Ich werde dich zu gar nichts überreden, was du nicht selbst willst, Rachel-Ann. Wenn du möchtest, werde ich das Wort Anonyme Alkoholiker nicht einmal in den Mund nehmen.“
„Es ist nicht das Richtige für mich“, sagte sie. Es war ihr wichtig, ihn zu überzeugen. „Ich weiß, dass dir das nicht gefällt, aber es funktioniert nicht bei jedem.“
„Ich kann alles akzeptieren, was du mir sagst“, entgegnete er ruhig. „Aber ich kann dir keine Antworten geben. Die musst du selbst herausfinden.“
„Vielleicht ist es das, wovor ich Angst habe.“
„Wahrscheinlich ist das so,
mi amor
. Wahrscheinlich ist das so.“
La Casa de las Sombras hat seinen Namen wirklich verdient, dachte Coltrane, als er die gewundene Auffahrt entlangfuhr. Überall Schatten im Mondlicht und nicht ein einziges Anzeichen von Leben. Der riesige Mercedes war verschwunden, genauso wie Deans Lexus. Rachel-Anns Sedan war noch da, zurückgelassen mit dem Oldtimer in der hintersten Garage. Gleichmütig stellte er fest, dass sein Range Rover noch immer nirgends zu sehen war. Ihm gefiel die Corvette sowieso viel besser. Er hoffte nur, dass Rachel-Ann an einem sicheren Ort war. Sie hatte wie gebannt an diesem Tisch gesessen, unfähig, sich zu rühren. Wahrscheinlich ahnte sie das Ausmaß von Meyers Obsession gar nicht, auch wenn sie eine gewisse Ahnung haben musste.
Coltrane hätte ihn am liebsten umgebracht. Zwar war er eher ein Mann, der seinen Verstand gebrauchte, um zu erreichen, was er wollte. Doch diesmal stand ihm der Sinn ausschließlich nach körperlicher Gewalt. Das hatte in dem Moment begonnen, in dem Meyer ins Zimmer gekommen war und angefangen hatte, Jilly zu beleidigen. Was nicht funktioniert hatte; dazu war sie viel zu dickköpfig. Unnachgiebig war ihr Gesichtsausdruck gewesen, während ihr Vater sie so schikanierte, unberührt von seiner Bösartigkeit. Es war klar, dass sie ihn schon Jahre zuvor aufgegeben hatte und er nicht mehr die Macht besaß, sie zu verletzen.
Ganz anders Rachel-Ann. Sie schrumpfte auf dem Sofa regelrecht zusammen, als Meyer ihr Knie wie ein Perverser betatschte, und gab keinen Ton von sich. Zuvor hatte Coltrane nicht angenommen, dass Meyers Besessenheit so tief ging. Es zu wissen hätte natürlich auch nichts geändert, aber zumindest hätte er gleich eine gewalttätige Lösung favorisiert.
Er parkte in einer der leeren Garagen und sah Jilly an. Sie war eingeschlafen, vermutlich hatten die Schmerztabletten das ihre dazu beigetragen. Er betrachtete sie sehr lange.
Sie ist nicht wirklich schön, dachte er. Nicht so umwerfend wie manch eine Frau, mit der er eine Affäre gehabt hatte. Sie war auch nicht besonders charmant. Vom ersten Augenblick an hatte sie ihn immer nur angemeckert. Aber vielleicht war das ja ein Teil ihres Charmes, schließlich musste er sich endlich selbst eingestehen, dass er von ihr bezaubert war. Vollkommen bezaubert. Er hatte von Anfang an geplant, mit ihr ins Bett zu gehen, zumindest von dem Augenblick an, an dem er erkannt hatte, dass Rachel-Ann seine Schwester war. Nein, das war eine Lüge. Er hatte es geplant, als er Jilly zum ersten Mal im Wartezimmer bei Meyer Enterprises gesehen hatte. Damals war sie eingeschlafen, so wie jetzt. Er hatte nicht gewusst, wie aufregend eine schlafende Frau sein konnte. All die Entschuldigungen, bösartigen Motive und gemeinen Absichten, die er sich selbst eingeredet hatte, stimmten nicht. Jetzt, wo er sie so ansah, wusste er genau, warum er unbedingt mit ihr schlafen
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