Mitternachtsschatten
Viertel zu erreichen, ohne sich zu verfahren. Es war Samstagnacht, die Straßen waren dicht bevölkert, hell beleuchtet und voller Lärm. Sehr, sehr langsam lenkte sie den Wagen an den Reihen von Apartmenthäusern vorbei und suchte seines. Es zu finden, war viel leichter, als einen freien Parkplatz zu entdecken. Im Schneckentempo fuhr sie die Straße entlang, als plötzlich jemand gegen die Scheibe klopfte. Rachel-Ann schrie leise auf, drückte den Knopf und kurbelte dann das Fenster ein Stück hinunter. Es war einer der Jungs aus der Gang, dem sie an diesem Morgen begegnet war, und in dem grellen Schein der Straßenlaternen sah er nicht eben vertrauenerweckender aus als im Tageslicht.
„Hey, Lady, Sie sind zurückgekommen! Der Doc arbeitet noch, aber er wird bald nach Hause kommen. Brauchen Sie einen Parkplatz?“
„Nein, ich wollte nicht …“
Doch er ignorierte sie und pfiff einmal scharf durch die Zähne. „Hey,
compadre
, fahr deine Dreckschleuder da weg, damit die Lady ihr Auto parken kann“, befahl er mit lauter Stimme. Eine Flut spanischer Schimpfwörter kam als Antwort, doch das Auto direkt vor ihr wurde weggefahren, und sie hatte genug Platz, um den Range Rover zu parken. Erleichtert zog sie den Schlüssel aus dem Zündschloss.
„Na also, geht doch. Hübsches Auto, Lady. Gefällt mir besser als der BMW. Neu?“
„Ich habe es gestohlen.“
Der Junge grinste. „Gehen Sie schon, Lady. Wir werden uns drum kümmern, dass niemand Ihr Auto anfasst. Gehen Sie einfach hoch in die Wohnung. Wie gesagt, der Doc kommt bald heim. Wenn Sie wollen, kann ich Sie reinlassen, ich weiß, wie man seine Schlösser öffnet.“
„Ist schon gut, ich habe einen Schlüssel.“
Er grinste wieder. „Na dann. Keine Sorge wegen dem Auto. Wir lassen unsere Leute nicht im Stich, und da Sie zum Doc gehören, gehören Sie auch zu uns.“
Zum ersten Mal seit Stunden wurde Rachel-Ann ganz ruhig.
19. KAPITEL
R achel-Ann war nicht überrascht, dass der Schlüssel in das Schloss von Ricos Wohnung passte. Zwar hatte sie keine Ahnung, wann er ihn an ihren Schlüsselbund gehängt hatte, aber sie dankte Gott dafür. Das Apartment war immer noch recht aufgeräumt, auch wenn Geschirr in der Spüle stand. Sie begann, es abzuwaschen, ohne genau zu wissen, warum. Es schien ihr einfach das Richtige zu sein. Dann lief sie ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Es gab nur drei Kanäle, und das Bild war nicht gut. Kein Wetterkanal. Sie schaltete ihn wieder aus, dann kniff sie die Augen zusammen und starrte auf die Fotografien im Buchregal. Sie erkannte Consuelo und Jaime, sie waren älter als damals, als sie sie zuletzt gesehen hatte, sahen aber sehr zufrieden aus. Daneben stand ein Bild mit Rico und einer schönen jungen Frau an seinem Arm. Und ein Foto von ihr selbst, auf dem sie nicht älter als sechzehn sein konnte. Damals war sie jung und unschuldig und hoffnungsvoll gewesen.
Sie war sich nicht sicher, welches Bild sie mehr beunruhigte. Das mit der unbekannten Frau, die so glücklich an Ricos Arm hing, oder das einer jungen Rachel-Ann. Sie nahm die bunte Decke vom Sofa und legte sie sorgfältig auf den Tisch, ganz genau so, wie er es in der vergangenen Nacht getan hatte. Dann klappte sie das Sofa auf, zog ihre Kleider aus, krabbelte unter die Bettdecke und wartete in der Dunkelheit auf ihn. Eine halbe Stunde später stand sie auf, zog die Unterwäsche wieder an und legte sich zurück ins Bett. Eine Stunde später stand sie erneut auf und schlüpfte in ihr enges, schwarzes Kleid. Ihre Strumpfhose, die zerrissen war, landete im Müll. In seiner Wohnung war es kühl, oder vielleicht war sie auch nur nervös. Sie fand ein T-Shirt, das er über die Badezimmertür geworfen hatte, es roch nach Seife und Shampoo und Rico. Sie zog es über ihr Kleid, es reichte ihr bis über die Knie. Wieder zurück im Wohnzimmer, klappte sie die Couch zusammen, nahm dann Consuelos Decke vom Tisch, wickelte sich darin ein und kuschelte sich auf dem Sofa zusammen.
Als Rachel-Ann aufwachte, war es ganz still – und sie war nicht mehr alleine in dem Apartment. Rico lag lang ausgestreckt auf dem Boden, den Kopf an das Sofa gelehnt.
Er sah erschöpft aus. Zum ersten Mal hatte sie die Gelegenheit, ihn richtig anzusehen. Jetzt wunderte sie sich, dass sie ihn nicht gleich erkannt hatte. Er hatte noch immer diese wundervollen hohen Wangenknochen, den sensiblen Mund und das ausgeprägte Kinn. Allerdings hatte er ein wenig von seiner jugendlichen Arroganz
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