Mitternachtsschatten
verloren. Consuelo und Jaimes junger Sohn war schön, stolz, geschmeidig und erotisch gewesen. Er hatte sie und das Leben geliebt, alles schien ganz einfach zu sein. Nun sah er aus wie jemand, der gelebt hat. Sie entdeckte Linien um die Augen und seinen wunderschönen Mund und sogar ein paar graue Haare. Und sie fand ihn schöner denn je.
Rachel-Ann wollte ihn nicht aufwecken, er sah so müde aus. Außerdem war sie zufrieden damit, einfach hier zu liegen und ihm im Licht der Straßenlaternen beim Schlafen zuzusehen. Sein sanftes Gesicht anzuschauen gab ihr ein Gefühl von Sicherheit, wie sie es seit Jahren nicht mehr gekannt hatte. Oder vielleicht noch nie. Sie wollte nicht darüber nachdenken, warum sie vor einigen Stunden aus dem La Casa fortgerannt war. Sie wollte Jackson vergessen, die Stimmen, alles. Sie hatte nur einen Wunsch: hier zu liegen und Rico zu betrachten.
Genau in diesem Augenblick öffnete er die Augen, drehte seinen Kopf und sah sie an. Ohne zu sprechen legte sie eine Hand an seine Wange, ihre Lippen auf seinen Mund, und einen Augenblick später lag sie neben ihm auf dem Boden.
Er liebte sie schweigend und mit solcher Zärtlichkeit, dass sie hätte weinen mögen. Er nahm sie wie eine jungfräuliche Braut, seine Hände und Lippen waren sanft, er hielt seine Stärke und Hitze und Lust zurück, und als er in sie eindrang, erreichte sie fast augenblicklich und zum ersten Mal seit Jahren einen Höhepunkt und begann zu weinen. Er küsste sie, als er kam, küsste ihr tränenüberströmtes Gesicht und ihren Mund, berührte sie mit seinem Körper und seiner Seele. Er hielt sie, während sie weiterweinte, zusammengerollt auf dem Boden, seinen Körper um ihren geschlungen.
Irgendwann während der Nacht klappten sie das Sofa wieder auf und legten sich unter die Bettdecke, liebten sich erneut, und dieses Mal fühlte sie sich freier; sie war bereit, ihn wieder und wieder in sich aufzunehmen, solch einen Hunger verspürte sie nach ihm. Als sie am nächsten Morgen aufwachte, streichelte er die Narben an ihren Handgelenken.
„So viele Schmerzen,
chic“a
, wisperte er.
„Ja“, antwortete sie, denn es war die Wahrheit.
„Geht es dir gut? Jetzt weißt du, warum ich dich in unserer ersten Nacht nicht geküsst habe. Ich wusste, dass wir uns dann lieben würden, und ich war mir nicht sicher, ob dich das nur noch mehr verletzen würde.“
Sie rollte sich auf den Rücken und sah zu ihm hoch. „Du hast mir niemals wehgetan, Rico.“
Er lächelte schief. „Nein, das ist nicht wahr. Ich war ein arroganter Idiot; ich dachte, die Welt gehört mir. Junge Kerle haben keine Ahnung, was sie anrichten können.“
Sie lächelte ihn an. „Gut, dann lass uns so verbleiben, dass du mir weniger wehgetan hast als die meisten Männer.“
„Was hat dich zu mir zurückgebracht, Rachel-Ann?“
„Du hast deinen Schlüssel an meinen Schlüsselbund gehängt.“
„Ja, aber ich habe dich nicht so schnell erwartet.“
„Soll ich gehen?“ Sie rollte sich von ihm weg, und er gab ein gespieltes Knurren von sich.
„Ich will, dass du mir erzählst, wovor du weggelaufen bist. Was ist passiert?“
Sie wandte ihr Gesicht ab. „Nichts. Nichts Bestimmtes. Mein Vater kam letzte Nacht zum Essen. Du kennst ihn nicht, also kannst du nicht wissen, wie Furcht einflößend er sein kann.“
„Doch, ich habe ihn getroffen. An dem Tag, an dem wir das La Casa verließen.“
Sie riss die Augen auf. „Er hat euch rausgeschmissen?“
„Wer denn sonst? Ihm gefiel die Idee, einen mexikanischen Schwiegersohn zu bekommen, ganz und gar nicht. Deine Großmutter hatte fast einen Anfall. Es ist schließlich nicht leicht, jemanden wie Jaime und Consuelo zu ersetzen, aber sie war auch der Meinung, dass du vor meinem ungesunden Einfluss beschützt werden musstest.“
Sie schwieg einen Moment. „Wir haben nie übers Heiraten gesprochen“, sagte sie schließlich.
„Nein. Aber ich habe davon geträumt. Ich habe dich geliebt,
chica
, so verzweifelt und leidenschaftlich geliebt, wie es nur ein Teenager kann. Ich wollte Drachen für dich erschlagen, jeden bekämpfen, der es wagte, dir wehzutun. Vor allem deinen Vater. Allerdings hatte ich damals offensichtlich keine Chance.“
„Und heute? Kannst du mich heute vor ihm beschützen?“ fragte sie schüchtern.
„Ja“, antwortete er. „Aber ich glaube, du musst dich selbst von ihm befreien.“
„Und was, wenn ich nicht stark genug bin? Was, wenn er gewinnt? Wie kommst du auf die Idee, dass ich
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