Mitternachtsspitzen: Roman (German Edition)
abzulenken. »Zweifellos haben Sie ihm nichts gesagt. Dafür sind Sie viel zu stolz.«
Sichtlich geknickt sank Kit in einen Sessel. »Es war nicht Stolz. Ich hab’s schlicht vergessen. Ist das verwunderlich? Nachdem er mir erklärt hatte, dass er mich verlassen würde?«
Veronica schlenderte zum Fenster, schob den Vorhang auseinander und spähte nach draußen. »Das Frausein fällt Ihnen noch schwer, denke ich. Aber das geht uns allen so. Die Männer haben es da leichter, weil sie klare Zielvorgaben haben. Sie kämpfen auf dem Schlachtfeld oder arbeiten körperlich hart oder machen das große Geld. Für uns Frauen ist es bei weitem komplizierter. Werden wir zur Frau, wenn ein Mann uns das erste Mal verführt? Aber wieso sprechen wir dann von einem Verlust der Jungfräulichkeit? Beinhaltet der Begriff ›Verlust‹< nicht, dass wir vorher besser dran waren? Ich kann mir
nicht vorstellen, dass wir allein durch den rein physischen Akt zur Frau werden. Nein, für mich bedeutet weibliche Reife, dass wir wissen, was wichtig ist für unser Leben, und dass wir mit liebendem Herzen zu geben und zu nehmen lernen.«
Kit hing gebannt an Veronicas Lippen.
»Meine Liebe«, meinte Veronica weich. Sie glitt zum Bett und nahm ihren Umhang auf. »Es wird Zeit, dass Sie den letzten Schritt zum Frausein machen. Manche Dinge sind Randerscheinungen im Leben, andere jedoch von Dauer. Sie müssen sich für das Richtige entscheiden.«
Sie verschwand so rasch, wie sie gekommen war, und ließ Kit nachdenklich zurück. Die junge Frau hörte, wie die Kutsche über die Auffahrt holperte. Kurz entschlossen ergriff sie ihre Reitjacke und zog sie über das zerknitterte Wollkleid. Sie huschte aus dem Haus und lief zu der ehemaligen Sklavenkirche.
Im Innern war es dämmrig und kühl. Sie setzte sich auf eine der grob gezimmerten Bänke und sinnierte über Veronicas Worte.
Aus einer Ecke drang das monotone Nagen einer Maus. Ein Ast klopfte gegen das Fenster. Kit sah Cains schmerzvolles Gesicht vor sich, bevor er sie verlassen hatte. In diesem Augenblick schwang die Tür zu ihrem Herzen, die sie krampfhaft verschlossen gehalten hatte, endlich auf.
Sie mochte es noch so heftig leugnen oder dagegen ankämpfen, sie hatte sich haltlos in ihn verliebt. Und diese Liebe war lange vor jener verhängnisvollen Julinacht besiegelt gewesen. Wie eine Fügung des Schicksal. Sie waren füreinander bestimmt. Sie brauchte ihn wie die Luft zum Atmen.
Sie liebte ihn trotz ihrer unzähligen Querelen und Konflikte, trotz ihrer Aufsässigkeit und seiner Arroganz, weil
sie sich im Grunde ungemein ähnlich waren. Und sie liebte ihn wegen der langen, verheißungsvollen Nächte, in denen er sie mit kostbarem neuem Leben erfüllt hatte.
Sie wünschte, sie könnte die Uhr zurückstellen. Auf jene Zeit, da er sie gestreichelt und sie seine Zärtlichkeiten hemmungslos erwidert hatte. Jetzt war er fort, und sie hatte nicht ein einziges Mal von Liebe gesprochen. Er aber auch nicht. Vielleicht waren seine Empfindungen nicht so tief wie ihre.
Sie wollte ihn suchen, um einen Neuanfang zu wagen. Und dieses Mal würde sie es richtig machen. Aber ihr waren die Hände gebunden. Sie allein war schuld an dem Schmerz, der sich in seinen Augen gespiegelt hatte. Und er hatte ihr nie etwas vorgemacht: Er wollte keine Ehefrau, und schon gar keine wie sie.
Tränen rollten über ihre Wangen. Sie verschränkte schützend die Arme vor ihrem Körper. Akzeptierte die traurige Wahrheit – Cain war froh gewesen, sie loszuwerden.
Und sie würde eine weitere Tatsache akzeptieren müssen. Das Leben ging auch ohne ihn weiter. Sie hatte sich lange genug selbst bemitleidet. Zwar konnte sie nachts in die Kissen weinen, aber tagsüber hatte sie gefälligst einen klaren Kopf und Haltung zu bewahren. Es gab jede Menge Arbeit auf der Plantage und Menschen, die von ihr abhängig waren. Und das Baby, das eine Mutter brauchte.
Das Baby kam im Juli zur Welt, fast genau vier Jahre nach jenem heißen Nachmittag, an dem Kit in New York eingetroffen war, um Baron Cain zu töten. Es war ein Mädchen, blond wie sein Vater, mit strahlenden, veilchenblauen Augen, umrahmt von winzigen, schwarzen Wimpern. Kit entschied sich für den Namen Elizabeth und nannte es Beth.
Die Geburt verlief ohne Komplikationen. Sophronia war während der ganzen Zeit bei Kit geblieben, derweil Miss Dolly wie ein aufgescheuchtes Huhn herumrannte, überall im Weg stand und vor lauter Nervosität drei ihrer Spitzentaschentücher
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