Mitternachtsstimmen
hielt
Ryan dagegen.
»›Wahrscheinlich‹ ist kein Versprechen«, warf Laurie ein,
und obwohl ihre Tochter den Anschein erwecken wollte, sie zu
unterstützen, entging Caroline nicht das amüsierte Aufblitzen
in ihren Augen, als sie ihren vor Wut kochenden Bruder
beobachtete. »›Wahrscheinlich‹ heißt nur ›vielleicht‹.«
Ryan wirbelte zu seiner Schwester herum. »Heißt es nicht!«,
blaffte er. »Es ist fast ein Ja!« Damit drehte er sich wieder zu
seiner Mutter um. »Wenn Dad noch leben würde –«
»Sei still!«, sagte sie, und die beiden Worte brachen mit
einer solchen Kraft aus ihr heraus, dass sie den Jungen nicht
nur zum Schweigen brachten, sondern ihm auch die Tränen in
die Augen trieben. Gegen seine Wut konnte sie sich noch
wehren, nicht aber gegen seinen Kummer. »O mein Schatz, das
tut mir Leid«, rief sie aus, kniete sich vor ihn und nahm ihn in
den Arm. »So habe ich das nicht gemeint. Es ist nur –«
Nur was? Wie konnte sie Ryan erklären, dass sie es sich
einfach nicht leisten konnte, mit ihm und Laurie heute Abend
ins Kino zu gehen, nicht solange die Drohung, ihren Job zu
verlieren, wie ein Damoklesschwert über ihr hing? Den ganzen
Samstagabend über hatten Claires Worte an ihr genagt. Und als
sie schließlich zu Bett gegangen war, hatte sie sich stundenlang
hin und her gewälzt und gegen die Angst angekämpft, die sie
zu überwältigen drohte, als sie überlegte, was passieren würde,
wenn Claire ihre Drohung tatsächlich wahr machte. Und in der
tiefen Verzweiflung der frühen Morgenstunden hatte sie exakt
die gleichen Worte gedacht, für die sie ihren Sohn soeben
getadelt hatte. Tatsächlich war sie sogar noch weiter gegangen
als Ryan, hatte Brad im Stillen dafür verflucht, dass er sich
davon gemacht und es ihr überlassen hatte, mit der hässlichen
Realität zurechtzukommen, die so schnell ihre zerplatzten
Träume ersetzt hatte. So war es doch gar nicht gedacht gewesen – ihre Kinder als allein erziehende Mutter großzuziehen,
und einen Weg finden zu müssen, mit dem wenigen Geld
auszukommen, das sie verdiente. Wenn Brad doch bloß nicht –
Abrupt stoppte sie ihren Gedankengang, genau wie sie zuvor
Ryan daran gehindert hatte, die gleichen Worte auszusprechen.
Doch der Gedanke hatte sich selbst vollendet, und kein
Wunsch war stark genug, Tatsachen zu verändern.
Brad war tot – und das war eine unverrückbare Tatsache.
Und wenn Claire sie feuerte, konnte sie auch nichts dagegen
unternehmen.
Sie war am Morgen völlig gerädert aufgestanden, und als
Ryan sie mit dem Vorschlag bestürmt hatte, am Abend alle
gemeinsam ins Kino zu gehen, hatte sie nicht die Kraft
aufgebracht, mit ihm zu debattieren. Was von ihr als Verzögerungstaktik gedacht war, hatte er für bare Münze
genommen.
Und jetzt, als sie den Stich, den ihre Worte verursacht hatten,
noch stärker spürte als er, schob sich ein anderer Gedanke in
der Vordergrund.
Brad mochte tot sein, aber sie lebte, und ebenso Laurie und
Ryan.
Und sie mochte ihren Job verlieren, oder vielleicht auch
nicht.
Wenn sie ehrlich war, hatte sie nicht die geringste Ahnung,
wie ihre Zukunft aussah. Alles, was sie besaß, waren
Hoffnungen, und die meisten davon hatte Brads Tod
zerschlagen.
Und obwohl ihr Bankkonto beinahe erschöpft war, hatte sie
vom Verkauf der hässlichen Vase eine saftige Provision zu
erwarten. Na ja, für die nächste Monatsmiete würde die nicht
reichen, wohl aber für drei Kinokarten.
Sie gab Ryan einen aufmunternden Knuff und stand auf.
»Also schön, Kinder. Hier ein Vorschlag zur Güte: Ich habe
nicht ausdrücklich versprochen, dass wir heute Abend ins Kino
gehen, aber Ryan hat Recht – ich sagte wahrscheinlich – was
einem Ja näher ist als ›vielleicht‹. Und ich muss zugeben, dass
ich heute nicht besonders unterhaltsam war, deshalb würde ich
sagen, wir gehen erst zum Chinesen essen und anschließend
schauen wir uns einen tollen Film an. Was haltet ihr davon?«
An Stelle einer Antwort sauste Ryan los, um seine Jacke zu
holen, ehe seine Mutter es sich noch einmal anders überlegen
konnte.
Drei Stunden später, als sie aus dem Loew’s an der 84.
Straße kamen und Richtung Broadway marschierten, wusste
Caroline, dass sie richtig entschieden hatte. Zur Abwechslung
einmal im Restaurant zu essen und sich anschließend in dem
dunklen Zuschauerraum in einem Sciencefiction-Märchen zu
verlieren, das Ryan für sie ausgesucht hatte, das hatte ihr das
Gefühl gegeben,
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