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Mitternachtsstimmen

Mitternachtsstimmen

Titel: Mitternachtsstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Saul
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fürchte, ich habe bis heute Vormittag noch keine dieser
Schauergeschichten gehört«, erwiderte Caroline, deren
Unsicherheit angesichts des guten Humors dieser alten Dame
allmählich schwand. »Wie nennt man das? Wenn man von
etwas zum ersten Mal hört, und kurz darauf gleich noch
einmal?«
»Synchronismus, glaube ich.«
»Na, wie auch immer, jedenfalls ist das ein prachtvoller alter
Bau, und ich habe bisher kein Wort darüber gehört, dass Ihr
Portier angeblich ein Troll ist. Tatsächlich sind Sie die erste
Person, die ich kennen gelernt habe, die in diesem Haus wohnt.
Angeblich ist es noch schwieriger, dort eine Wohnung zu
bekommen als im Dakota!«
Ein zufriedenes Lächeln spielte um Irenes Mundwinkel.
»Wir lieben dieses alte Gebäude, mit all seinen Schauermärchen und Legenden. Vielleicht kommen Sie mich ja einmal
besuchen.«
»Sehr gerne«, antwortete Caroline. »Mich hat schon immer
interessiert, wie es dort drinnen aussieht.«
»Gut, dann ist das also abgemacht? Wenn Sie die Vase selbst
ausliefern, zeige ich Ihnen gerne meine Wohnung.« Ihr Blick
wanderte noch einmal durch den Laden. »Wenn Ihnen diese
Dinge hier gefallen, dann werden Sie sicher zu schätzen
wissen, was ich Ihnen zu zeigen habe.« Sie warf einen raschen
Blick auf die kleine antike Uhr, die an einer mit Juwelen
besetzten Nadel an ihrem Kleid hing. »Huch, meine Liebe, jetzt
muss ich mich aber sputen.«
Einen Moment später war sie verschwunden, doch ihr helles
Lachen schien noch eine kurze Weile im Raum zu schweben,
ehe es endgültig verklang und Caroline allein zurückließ.
Viereinhalb Stunden später, als Claire Robinson endlich
zurückkehrte, fiel ihr Blick als Erstes auf das VERKAUFTSchild an der chinesischen Vase. »Sehen Sie, ich hatte Recht!«,
rief sie aus. »Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass der Preis zu
niedrig ist!« Sie schnippte mit den Fingern. »Voilá!« Dann
fragte sie: »Wann wird sie abgeholt?«
»Es ist eine ältere Dame, die sie gekauft hat«, erklärte
Caroline ihr. »Ich habe ihr versprochen, dass wir die Vase
liefern.«
Claires Lächeln bröckelte. »Liefern?«, wiederholte sie
ungehalten. »Ich nehme doch an, dass sie das bezahlt.«
Caroline schüttelte den Kopf. »Ich dachte, bei dem Gewinn
wäre das mit drin. Ich werde am Montag ein Taxi nehmen – es
liegt direkt auf meinem Weg.«
»Wenn Sie wollen«, meinte Claire mit einem desinteressierten Achselzucken. »Solange Sie die Taxifahrt von
Ihrer Kommission abziehen, soll mir das recht sein.«
Inzwischen war sie an ihrem Schreibtisch angelangt, nahm das
Kassenbuch und schlug es auf. »Das ist alles?«, rief sie gereizt
und nagelte Caroline mit ihrem Blick fest. »Sie haben den
ganzen Nachmittag über nur diese eine Vase verkauft?«
»Es ist ein herrlicher Tag heute«, verteidigte sich Caroline.
»Ich nehme an, die meisten Leute hat es hinaus ins Freie
gezogen.«
Claire schien ihr gar nicht zuzuhören, doch ihre Miene
verhärtete sich angesichts Carolines magerer Umsätze. »Ich
weiß nicht«, sagte sie mehr zu sich selbst. »Ich hoffe, dass ich
mit Ihnen keinen Fehler gemacht habe.«
Caroline wusste genau, was sie vor sechs Monaten darauf
erwidert hätte, als Brad noch am Leben war. »Doch, Sie haben
einen Fehler gemacht«, hätte sie zurück geschossen, »Sie
haben vergessen, sich bei mir zu bedanken, dass ich an meinem
freien Tag eingesprungen bin«, und auf der Stelle gekündigt.
Doch Brad war nicht mehr am Leben, und Caroline konnte es
sich schlichtweg nicht leisten, diesen Job zu verlieren, ganz
gleich, wie schwierig Claire sein konnte. »Es tut mir Leid«,
sagte sie und legte so viel Zerknirschtheit in ihre Stimme, wie
sie aufbringen konnte. »Ich werde mich bessern. Das
verspreche ich.«
Claire bedachte sie mit einem kühlen Lächeln. »Das will ich
hoffen«, sagte sie. »Ansonsten werden Sie sich nach einem
anderen Job umsehen müssen.«
Beim Verlassen des Ladens zog sie ihren Mantel unter dem
Kinn zu, doch der dünne Popelinstoff konnte gegen die Kälte
von Claires letzten Worten nichts ausrichten.

5. Kapitel
    »Aber du hast es versprochen!«, stieß Ryan mit der geballten
Wut eines enttäuschten Zehnjährigen hervor, und das Gewitter,
das sich in seinen Augen zusammenbraute, sah aus, als könnte
es sich jeden Moment in einen Tornado verwandeln.
    »Ich habe gar nichts versprochen«, erwiderte Caroline
geduldig. »Ich sagte ›mal sehen‹.«
»Du hast gesagt, wir könnten wahrscheinlich gehen«,

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