Mitternachtsstimmen
die Küche, als
stünde sie auf der Bühne, und stellte den Korb genau zwischen
Laurie und Ryan ab. »Na, na, Finger weg«, tadelte sie und gab
Caroline einen Klaps auf die Finger, als diese das Geschirrtuch
von dem köstlich duftendem Gebäck ziehen wollte. »Muffins
sind gut für Kinder, aber Sie wissen ja, was sie bei uns Frauen
anrichten.« Sie deckte selbst den Korb ab und legte je einen
Muffin auf Lauries und Ryans Teller. »Lasst es euch
schmecken, meine Lieben«, rief sie auffordernd und musterte
dann Lauries Gesicht mit einem scharfen Blick. »Du siehst ein
bisschen spitz aus um die Nase.«
»Ich … ich habe nicht gut ge –«, begann Laurie, wurde aber
von ihrem Bruder unterbrochen.
»Wir haben Geister gehört!«, erklärte er.
Virginia Estherbrook verzog das Gesicht zu einer
dramatischen Schreckensmiene. »Geister? Was du nicht sagst!
Ich wäre auf der Stelle tot umgefallen!«
»Irgendwie glaube ich nicht so recht, dass es Geister waren,
Miss Estherbrook«, wiegelte Caroline ab.
»Virgie«, wurde sie von der einstigen Diva korrigiert. »Miss
Estherbrook klingt so schrecklich alt, findest du nicht?«
»Es waren nur Stimmen«, sagte Laurie. »Wie auf einer
Party. Es hat sich so angehört, als fände diese Party in dem
Zimmer neben dem meinen statt.«
Virgie Estherbrook griff sich an die Stirn. »Oje, meine
armen Kinder, das tut mir aber Leid!«, rief sie aus. »Das war
meine Schuld! Ich hatte gestern Abend ein paar Freunde bei
mir, und wir haben uns einfach prächtig amüsiert – ihr wisst ja,
wie Schauspieler sind –, wir sind es so gewöhnt, Rollen zu
spielen, dass wir gar nicht mehr damit aufhören können. Und in
diesen alten Gemäuern –« Sie verstummte, und setzte eine so
übertrieben tragische Miene auf, dass Caroline alle Mühe hatte,
nicht laut loszuprusten. »Wie kann ich das je wieder gutmachen? Die armen Kleinen müssen sich ja zu Tode gefürchtet
haben!«
»Na, so schlimm war es nun auch wieder nicht«, begann
Caroline, doch Virginia Estherbrook schüttelte heftig den
Kopf.
»Das war ganz schrecklich gedankenlos von mir, und ich
verspreche euch, dass so was nie wieder vorkommt.« Sie fiel
vor Lauries Stuhl auf die Knie und rang theatralisch die Hände.
»Kannst du mir das jemals verzeihen?«
»Wenn ein Kritiker diese Vorstellung sähe, würden Sie unter
Garantie nie wieder eine Rolle bekommen«, bemerkte Tony
Fleming, womit er sich einen bitterbösen Blick der alten Dame
einhandelte, ehe diese sich erhob. Als sie dann weitersprach,
hatte ihre Stimme wieder eine normale Tonlage angenommen.
»Ganz gleich, was Tony meint: Mir tut es Leid, und ich sehe
zu, dass es nicht wieder vorkommt. Einverstanden?«
»Selbstverständlich«, beeilte sich Caroline zu versichern und
wandte sich an Ryan. »Siehst du? Keine Geister. Nur eine
Party.«
»Seid nur froh, dass sie nicht Lady Macbeth geprobt hat«,
warf Tony ein. »Das wäre wirklich gruselig gewesen.«
Doch auch nachdem Virginia Estherbrook gegangen war,
machte Ryan noch immer keinen ganz überzeugten Eindruck.
»Ich mag dieses Haus nicht«, wiederholte er stur. »Ich will
nach Hause.«
»Du bist zu Hause«, erklärte Tony ihm. »Probier mal einen
von den Muffins – dann wirst du die gestrige Nacht schnell
vergessen.«
Der Junge starrte seinen Stiefvater finster an. »Ich muss
nichts essen, was ich nicht will.«
»Ryan!«, sagte Caroline etwas schärfer als beabsichtigt. Die
Augen des Jungen weiteten sich, er wollte etwas sagen, schien
dann aber seine Meinung zu ändern. »Das war nur die erste
Nacht«, versuchte Caroline ihn zu besänftigen. »Es wird alles
gut werden.«
»Ich hasse diese Wohnung«, erklärte Ryan mit verstockter
Miene. Und ich hasse mein Zimmer. Ich will nach Hause!«
Wieder kam Tony Caroline zuvor. »Dein Zimmer wird dir
sicher besser gefallen, wenn du es wirklich zu deinem machst«,
schlug er vor. Ryan sah ihn argwöhnisch an.
»Pass auf, ich sage dir was«, fuhr Tony fort. »Wenn du heute
Schulkleidung einkaufen gehst, kannst du dich doch auch
gleich nach Tapeten oder Möbeln für dein Zimmer umsehen.
Du kannst es ganz nach deinem Geschmack einrichten, und in
ein paar Wochen wirst du das Gefühl haben, dass du schon
immer hier wohnst.« Nun wandte er Caroline seine Aufmerksamkeit zu. »Man könnte doch gleich mit den Kinderzimmern
anfangen, nicht wahr? Und dann kannst du dich weiter durch
die ganze Wohnung arbeiten.« Er lachte über ihre überraschte
Miene. »Glaubst du, ich habe nicht mitgekriegt, worüber
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