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Mitternachtsstimmen

Mitternachtsstimmen

Titel: Mitternachtsstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Saul
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stocksteif auf der vorletzten Stufe, den
Blick nicht auf sie, sondern in die Lobby gerichtet, die Augen
weit aufgerissen und mit einem Ausdruck im Gesicht, als
wollte er auf der Stelle kehrtmachen und die Treppe wieder
hinaufrennen. Caroline folgte Ryans Blickrichtung und einen
Moment lang glaubte sie beinahe, der Fahrstuhl hätte sie in die
Eingangshalle eines anderen Gebäudes gebracht.
Jeder Sessel und jedes Sofa in der großen Halle schienen
besetzt zu sein, und ein gutes halbes Dutzend Leute standen.
Zuerst erkannte Caroline niemanden, doch dann entdeckte sie
Irene Delamond. Neben ihr in einem Rollstuhl saß ihre
Schwester Lavinia, die sich ein Wolltuch um die spitzen
Schultern gelegt hatte.
Außer ihr saßen noch zwei andere Leute im Rollstuhl, und
als Caroline aus dem Aufzug stieg, kam einer von ihnen
zögernd auf sie zugefahren. Der Mann sah aus, als habe er die
neunzig schon hinter sich, und als er vor Ryan zum Stehen
kam, sprach er mit einer Stimme, die nicht weniger zitterte als
die Hand mit den krummen, geschwollenen Fingern, die einen
Schokoriegel umklammerten und sich Ryan entgegenreckten.
»Da bist du ja! Und genauso kräftig wie Irene dich beschrieben
hat!« Aus wässrigen, tief eingesunkenen Augen starrte er Ryan
an. »Magst du Schokolade, Junge?«
Instinktiv wich Ryan vor dem seltsamen Äußeren des
Greises zurück.
»Um Himmels willen, George, du machst ihm ja Angst«, rief
Irene, die rasch herbeieilte und sich zwischen Ryan und den
alten Mann schob. Mit einem missbilligenden, leisen Tz, Tz
warf sie einen Blick auf die Leute, die sich in der Lobby
versammelt hatten, und schenkte Caroline dann ein reumütiges
Lächeln. »Ich habe ihnen gesagt, sie sollen zu Hause bleiben
und Sie in Ruhe lassen, aber hier in diesem Haus darf man
niemandem etwas erzählen.«
Caroline, die immer noch nicht genau wusste, was da vor
sich ging, betrachtete verunsichert die Gruppe von Menschen,
die immer näher kamen, lächelten und die Hände ausstreckten.
»Sie möchten nur gern Sie und die Kinder kennen lernen,
das ist alles«, erklärte Irene.
»Wenn es nach Irene gegangen wäre, hätten wir sie
überhaupt nie kennen lernen dürfen«, warf eine Frau ein, die in
etliche Lagen Wolle gehüllt war. »Nur weil sie Sie zuerst
kennen gelernt hat, glaubt sie, Sie zu besitzen.«
»Uns besitzen«, wiederholte Caroline verwundert. Wovon
sprach diese Frau eigentlich? Was um alles in der Welt ging
hier vor?
»Nun beruhige dich wieder, Tildie«, gab Irene zurück.
»Niemand besitzt hier irgendjemanden.« Damit wandte sie sich
wieder an Caroline. »Es ist nur so, dass sie alle sich Sorgen um
Anthony gemacht haben, und seit sie wissen, dass er wieder
geheiratet hat, sprechen sie von nichts anderem mehr.« Sie
schüttelte den Kopf. »Die wenigsten von ihnen können die
Wohnung noch verlassen, und wieder junge Menschen im
Haus zu wissen – tja, da kann man ihnen kaum einen Vorwurf
machen, nicht wahr?« Einen nach dem anderen stellte Irene
ihre Nachbarn Caroline, Laurie und Ryan vor, und jeder von
ihnen hatte den Kindern etwas mitgebracht.
Süßigkeiten, wie Caroline ganz und gar nicht begeistert
feststellte, von denen den Kindern nicht nur übel werden
würde, sondern die ihnen auch noch die Zähne ruinierten. »Das
ist heute eine Ausnahme, das verspreche ich Ihnen«, sagte ein
Mann mit stechend blauen Augen und dichtem grauem Haar.
»Ich bin Arzt, ich weiß um diese Dinge.«
»Dr. Humphries«, warf Irene Delamond ein. »Ich weiß nicht,
was wir ohne ihn anfingen.«
»Ach, Sie würden alle wunderbar zurechtkommen«,
erwiderte der Doktor, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder auf
Caroline konzentrierte. »Kinder sind widerstandsfähig«, sagte
er. »Viel mehr als wir Erwachsene. Lassen Sie sie ihre Süßigkeiten genießen.« Sein Blick streifte Laurie und Ryan.
»Kräftige, gesunde Kinder, alle beide. Sie werden uns gut
tun – wir werden alt und brauchen frische Energie um uns
herum, wenn Sie verstehen, was ich meine?« Er griff nach
Ryans Oberarm und drückte ihn probeweise. »Gut ausgebildete
Muskeln – ein Bursche, der nicht den ganzen Tag vor dem
Fernseher verbringt«, konstatierte er und fügte nach einer
kleinen Verbeugung vor Caroline hinzu: »Das schätze ich sehr.
Aber nun möchte ich Sie wieder den guten Wünschen ihrer
Nachbarn überlassen.«
Außer dem Doktor, Tildie Parnova und George Burton war
da auch Helena Kensington mit einem weißen Blindenstock in
der Hand

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