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Mitternachtsstimmen

Mitternachtsstimmen

Titel: Mitternachtsstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Saul
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und einer dunklen Sonnenbrille, die fragte, ob sie die
Gesichter der Kinder berühren dürfe.
»Du wirst sie erschrecken, Helena«, versuchte Irene sie
davon abzuhalten. »Aber ich kann dir beschreiben, wie sie
aussehen.«
Hilfe suchend schaute Laurie ihre Mutter an, doch als sie
sah. wie Ryan sich hinter Caroline drückte, um sie zwischen
sich und die blinde alte Frau zu schieben, fasste sie ihren
Entschluss. »Nein, das ist schon in Ordnung«, sagte sie und
versuchte sich dabei nicht anmerken zu lassen, dass sie sich
fürchtete. Mutig griff sie nach Helenas faltiger Hand, legte sie
auf ihr Gesicht und unterdrückte ein Zucken, als die Finger der
alten Frau die Konturen ihres Unterkiefers nachzogen.
»So ein hübsches Mädchen«, sagte Helena. »Gute, starke
Knochen.« Ihre Finger wanderten höher, und Laurie lief es kalt
über den Rücken, als die alte Frau ihr Haar befingerte, dann die
Stirn und die Augenbrauen. Zum Abschluss kniff sie sie in die
Wange. »So jung«, seufzte sie. »Und die Haut, so straff –«
»Helena!« Irene Delamonds Stimme war so scharf, dass
Laurie zusammenzuckte, und Helena die Hand sinken ließ.
Doch schon einen Moment später streckte sie sie schon wieder
tastend aus.
»Wo ist der Junge?«, bettelte sie förmlich. »Kann ich den
Jungen nicht auch berühren?« Ryan drückte sich an seine
Mutter. »Ist er wie das Mädchen?«, fuhr sie fort und reckte die
Hand immer wieder ins Leere. Als sie merkte, dass es erfolglos
war, ließ sie die Hand sinken. »Was Sie für eine hübsche
Tochter haben. Sie müssen sehr stolz sein.«
»Das bin ich auch«, erwiderte Caroline und legte schützend
den Arm um Ryan. Während Irene ihnen immer mehr Leute
vorstellte, drückte sich nun auch Laurie immer enger an ihre
Mutter, und irgendwann bekam Caroline klaustrophobische
Anwandlungen. Die Kinder und die Nachbarn, die ihr immer
dichter auf den Pelz rückten, und der Geruch der süßlichen
schweren Parfüms, die ältere Damen zu bevorzugen schienen,
raubten ihr schier den Atem. Und als sie schließlich durch die
schwere Eichentür nach draußen traten – die Geschenke der
Nachbarn hatte sie bei Rodney gelassen –, saugte Caroline die
frische Luft tief in ihre Lungen.
»Puh, das hatte ich nun wirklich nicht erwartet«, sagte sie,
als dieses Engegefühl endlich nachließ. »Ihr zwei seid anscheinend das Aufregendste, was sich seit Jahren dort ereignet
hat!«
»Die sind komisch«, befand Ryan. »Was wollten die von
uns?«
»Gar nichts – nur euch kennen lernen.«
»Aber die haben dauernd nach mir gegriffen«, brummte
Ryan und erschauderte bei der Erinnerung an die Finger, die
seinen Arm gedrückt und ihn in die Rippen gepiekt hatten.
»Sie sind nur alt und einsam«, erklärte ihm Caroline.
»Manche Menschen werden im Alter ein wenig sonderbar.«
Auf der Straße drehte Ryan sich noch einmal zu dem
Gebäude um, das sie soeben verlassen hatten. Die große
Eingangstür stand offen, und Dr. Humphries schaute hinaus.
Nein, er schaute ihn an.
Während sich die Türen langsam schlossen, und Dr.
Humphries verschwand, lief es Ryan eiskalt über den Rücken.

15. Kapitel
    »Nate?«
Nathan Rosenberg blickte von seiner Arbeit hoch und sah
Andrea Costanza in der Tür seines Arbeitsbereichs stehen, was
ihn insofern nicht überraschte, als er sich bereits seit über einer
Stunde redlich bemühte, das nervtötende Getrommel ihrer
Finger zu überhören. Dreimal hatte er der Versuchung widerstanden, sich über den Raumteiler zu beugen und sie zu fragen,
was denn los sei, doch alle drei Male hatte er entschieden, dass
sie ebenso gut zu ihm kommen konnte, falls sie seinen Rat
benötigte. Und jetzt grinste er sie an und trommelte seinerseits
viel sagend auf seiner Schreibtischplatte herum. »Ich habe dich
schon erwartet.«
»Manchmal glaube ich, dass ich dich aus tiefster Seele
hasse«, erwiderte Andrea, obwohl ihr Tonfall ihre Worte
Lügen strafte. »Also, erzähl mir mehr von diesen Osteopathen
und Homöopathen, auf die du so schwörst.«
Nates Getrommel verstummte. »Das Mayhew-Mädchen
schon wieder?«
»Ja. Gestern habe ich eine Freundin besucht, die seit kurzem
im Rockwell wohnt, und da kam auch Rebecca mit den
Albions vorbei. Sie sah aus, als hätte sie noch mehr Gewicht
verloren, und ihre Haut war so dünn und blass, dass man
meinte, durchschauen zu können.«
»Offensichtlich ist sie aber nicht mehr ans Bett gefesselt.
Bedeutet das nicht, dass es ihr besser geht?«
»Das bedeutet nur,

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