Mitternachtsstimmen
dass ihr Arzt nicht genug für sie tut«,
konterte Andrea. »Und ich kann ihn nicht finden.«
Rosenberg runzelte die Stirn. »Was meinst du damit, du
kannst ihn nicht finden?«
»Alles, was ich ausfindig gemacht habe, ist seine Adresse im
Rockwell.«
»Dann hast du ihn ja gefunden. Und weiter?«
»Ich meine, ich kann seine Praxis nirgends finden.«
»Warum muss er unbedingt eine Praxis haben?«
Andreas Blick besagte ganz offen, dass sie Nate für absolut
begriffsstutzig hielt. »Dort empfängt ein Arzt gemeinhin seine
Patienten. Oder lebst du in einer Art Parallelwelt, wo alles
anders ist?«
Nate Rosenberg lehnte sich entspannt zurück, legte die Füße
auf den Schreibtisch und verschränkte die Hände im Nacken.
»Jetzt hör dir die Geschichte von unserer alten Hausärztin
draußen auf Long Island an: Sie ist inzwischen beinahe
neunzig, würde sich gern zur Ruhe setzen, aber ihre Patienten
lassen das nicht zu. Sie hat ihre Praxis bereits vor vierzig
Jahren geschlossen und arbeitet seither nur noch von zu Hause
aus. Sie hat keine Assistentin, keine Helferin, nichts. Aber die
Patienten strömen nur so zu ihr, weil sie eine hervorragende
Diagnostikerin ist. Also, bevor du irgendwelche Schlüsse
ziehst – wie war noch sein Name?«
»Humphries. Theodore Humphries.«
»Richtig. Sag mal, warum schaust du dir den Knaben nicht
erst einmal an, bevor du entscheidest, dass mit ihm was nicht
stimmt?« Nate nahm die Füße vom Schreibtisch, schwang sich
zu seinem Computer herum, hackte kurz auf der Tastatur
herum, dann griff er zum Telefon, wählte eine Nummer und
reichte Andrea den Hörer.
Im nächsten Augenblick hörte sie am anderen Ende eine
tiefe Stimme. »Hier spricht Doktor Humphries. Was kann ich
für Sie tun?«
Da stimmt was nicht, sagte sich Andrea, als sie am Nachmittag
die schwere Eingangstür des Rockwell aufzog und das Vestibül
betrat. Kein Mensch bekommt bei einem Arzt am selben Tag
noch einen Termin. Schon gar nicht an einem Freitag. Und
kein Arzt geht selbst ans Telefon. Kurz darauf öffnete der
Hausmeister – oder Portier oder was immer seine Funktion war
– die innere Glastür und ließ sie ins Foyer. Im ersten Moment
war sie ein wenig verwirrt; etwas hatte sich verändert, aber sie
wusste nicht, was. Sie schaute sich um, aber nichts schien
anders zu sein. Und dennoch … Dann kam sie drauf. Das Licht
in der riesigen Halle schien heller zu sein und ließ den Raum
ein wenig freundlicher erscheinen. Doch als der Portier sie
ansprach, tat er das mit demselben Friedhofsflüstern wie sonst
auch. »Doktor Humphries erwartet Sie. Fünfter Stock, dann
nach links und bis ans Ende des Flurs.«
Fünfter Stock. Caroline wohnte auf der gleichen Etage. Der
Aufzug ächzte nach oben, blieb scheppernd stehen, und Andrea
schob die Tür auf. Sie wandte sich nach links, ging um das
große Stiegenhaus herum, das sich um den Aufzugschacht
wand und entdeckte dann auf der gegenüberliegenden Seite
von Caroline und Tony Flemings Wohnung, wonach sie
gesucht hatte: eine reich verzierte Mahagonitür mit einem
diskreten Bronzeschild, dessen grünliche Patina den Namen
beinahe unleserlich machte: THEODORE HUMPHRIES, D.O.
Neben der Tür befand sich ein bronzener Klingelknopf, eine
Spur heller als das Namensschild, doch als Andrea den Finger
danach ausstreckte, hielt sie unvermittelt inne.
Vielleicht sollte sie einfach wieder umkehren, bei Caroline
läuten und die ganze Sache vergessen. Unsinn, schalt sie sich,
sobald der Gedanke Form angenommen hatte. Du bist hier, um
etwas zu erledigen, also tu deine Arbeit. Und immer noch
zögerte sie.
Warum?
Dann wusste sie es. Es war die Stille. Hier gab es keinerlei
Geräusche, keine Türen, die auf oder zu gingen, keine
Bewegung in den Fluren. Selbst der Aufzug rührte sich nicht.
Ein Schauer durchfuhr sie, als diese Stille sie wie ein
Nebelschleier umhüllte. Mach dich nicht lächerlich. Du bist
eben an diese Wohnhäuser mit Horden lärmender Kinder
gewöhnt, wo man sein eigenes Wort nicht versteht. War es auch
so still gewesen, als sie Rebecca bei den Albions besucht hatte?
Sie versuchte sich zu erinnern.
Und, was besagte das? In dem Haus war es nun einmal still.
Na und? Entschlossen drückte sie auf die Klingel, dann zwang
sie sich dazu, ganz gelassen vor der Tür zu stehen, nicht über
die Schulter zu spähen und auch nicht dem plötzlichen
Verlangen nachzugeben, die Treppe hinunterzurennen, ehe Dr.
Humphries auf ihr Klingeln reagierte.
Dann ging die
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