Mittsommersehnsucht
Chrom. Daneben, an einem Galgen, hing eine Infusionsflasche mit durchsichtiger Flüssigkeit. Der Schlauch führte in ihre Armbeuge. Langsam, zäh, als wäre es Sirup, floss ein Tropfen nach dem anderen in ihre Vene. Man müsste die Einstellung verändern, schoss es Andrea durch den Kopf.
Und jetzt kam eine Schwester und leuchtete ihr mit einer kleinen Taschenlampe in die Augen. Danach korrigierte sie die Infusion – die Tropfenfolge verdoppelte sich. »So ist es besser«, murmelte sie, ehe sie eine Eintragung auf ein gefaltetes Blatt machte.
Eine Krankenakte, dachte Andrea. Sie drehte vorsichtig den Kopf zur Seite. »Birgit, jetzt sag schon. Warum liege ich hier? Ich … ich hab einen totalen Blackout.«
»Weißt du wirklich gar nichts mehr?«
»Nein. Ich weiß nur, dass ich losgefahren bin, um nach Haakon und seiner kleinen Tochter zu sehen. Danach … keine Ahnung!«
»Du bist angeschossen worden. Vor Evelyn Wahlstroms Haus.«
Andrea griff sich an die Stirn. Sie spürte einen Verband an der Schläfe, und als sie den Kopf mehr nach links drehen wollte, durchzuckte sie ein heftiger Schmerz. »Was ist das?«
»Nur ein Streifschuss.« Die Schwester, eine etwa vierzigjährige Frau mit frischer Gesichtsfarbe und einem dicken weißblonden Zopf, lächelte ihr zu. »Du brauchst keine Angst zu haben. Wir haben dich schon geröntgt. Die Kugel ist wohl an der Schläfe vorbeigeschrammt.«
»Innere Blutungen?«
»Keine.« Die Schwester drückte ihre Hand. »Klasse, dass du schon wieder logisch und wie eine Medizinerin denkst. Du hast im schlimmsten Fall eine Gehirnerschütterung. Deshalb hat Doktor Eidsvag auch befohlen, dass du noch für eine Weile ganz still liegen sollst. Ich komme nachher wieder. Birgit bleibt ja noch, nicht wahr?«
»Natürlich. Und gleich kommt Johan auch noch. Er will sich wohl selbst davon überzeugen, dass alles okay ist.«
»Tom … er war … Evelyn … Warum hat er geschossen?« Ihre Stimme verwischte sich, war kaum noch zu verstehen. Ohne dass sie es wollte, fielen ihr die Augen zu, und Birgit war froh, dass sie Andrea noch nicht die ganze traurige Wahrheit sagen musste.
48
I ch will alles über Evelyn Wahlstroms Vermögensverhältnisse wissen – Bargeld, Konten, Beteiligungen, eventuelle Mieteinnahmen. Das ganze Programm. Und das alles so schnell wie möglich.« Kriminalkommissarin Carina Rasmussen sah sich im Atelier um. »Weiß jemand von euch, ob etwas gestohlen wurde? Wer kennt sich hier aus?«
Ihre beiden Kollegen aus Svolvær schüttelten die Köpfe. »Keine Ahnung. Ich war noch nie hier«, sagte der Ältere der beiden. »Wer von uns kann sich schon ein Bild von ihr leisten!«
»Vielleicht weiß der Nachbar was. Er hat die Tote gefunden.« Der jüngere Beamte schob sich die blaue Uniformmütze aus der Stirn. Er fühlte sich unbehaglich. Noch nie, seit er bei der Polizei war, hatte er mit einem Mordfall zu tun gehabt. Der Anblick der Leiche, die noch immer nicht abtransportiert war, verursachte ihm eine Gänsehaut.
»Ruf ihn bitte her.« Carina zog sich Handschuhe über und nahm vorsichtig einen der zerbrochenen Bilderrahmen auf. »Habt ihr die schon genauer untersucht?«
»In diesem Teil des Zimmers sind wir fertig«, erklärte ihr Kollege von der Spurensicherung und wies nach links, wo Evelyn lag. »Dort hinten solltest du vorsichtig sein.« Jan Tjerborg, ein schmaler, kleiner Mann mit Glatze und Dreitagebart, machte noch ein paar Fotos. »Wenn du mich fragst, stimmt was mit den Bilderrahmen nicht.«
»Sie sind hohl.«
»Genau das meine ich.« Jan grinste. »Und dieses Pulver auf der Erde ist weder Zucker noch Mehl.«
»Du meinst Kokain?« Carina bückte sich und nahm vorsichtig etwas von dem weißen Pulver auf.
»Darauf verwette ich den Schatz meiner Großmutter.«
Sein Kollege, groß und blond, grinste. »Ich wusste gar nicht, dass du eine reiche Großmutter hast.«
»Ich auch nicht.« Jan schob ein paar Leinenfetzen in eine Plastiktüte. »Dahinten lag ein aufgerissenes Tütchen mit Tabletten. Ich denke, die sollten ebenfalls in den hohlen Bilderrahmen transportiert werden. Keine schlechte Idee, muss ich zugeben.«
Carina nickte. »Wer denkt schon daran, den Rahmen eines Kunstwerkes zu inspizieren! Ich zumindest hätte Respekt vor so einem wertvollen Teil.«
»Ob die Tote gedealt und geschmuggelt hat?«
Entschieden schüttelte Carina den Kopf. »Ich bin sicher, dass sie nichts davon wusste. Vor ein paar Monaten habe ich Evelyn Wahlstrom kennengelernt. Nein, mit
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