Mittsommersehnsucht
mit Roald Kontakt aufnehmen konnte. Von der modernen Technik verstehe ich nichts. Ich fahre auch nicht mit diesen schnellen Schneescootern, die unsere jungen Leute angeschafft haben. Aber meine Söhne sagen, es sei wichtig, mit der Zeit zu gehen.« Sie seufzte. »Ich weiß nicht, ob alles Neue gut ist. Aber wir wissen so, dass du bleiben kannst. Roald sagt, es war für die Polizei nicht schwer, ihn zu finden und mit ihm zu reden.«
»Schwer wäre es auch nicht gewesen, meine Unschuld zu beweisen. Wenn man es nur gewollt hätte!«
Berit drückte seinen Arm. »Sei nicht mehr zornig. Alles hat sich aufgeklärt. Dank der Ärztin.« Sie zuckte auf einmal zusammen, ein Schrei entfloh ihren Lippen.
»Was ist los?«
»Die Ärztin … sie ist in Gefahr. Aber mein Amulett …« Sie griff sich an die Brust und zog ein Amulett aus Walfischzahn heraus. Die Darstellung zweier Rentiere war beinahe identisch mit dem Amulett, das sie Andrea geschenkt hatte. Berit hielt das geschnitzte Schmuckstück fest in ihren Händen. Als sie es plötzlich fallen ließ, zog sich eine dunkle Spur über das helle Elfenbein.
Ole sah die Schamanin seiner Sippe fragend an. Doch Berit schien dem Jetzt und Hier entrückt. Sie schaute auf das Amulett, dann in die Weite der Heidelandschaft. Rotgolden glühten die wenigen Birken und Kiefern, die hier wuchsen. Sie waren vom Wind auf kunstvolle Weise verbogen worden. Skurrile Gestalten, die jetzt ein buntes Herbstkleid übergestreift hatten. Der Boden war, so weit das Auge reichte, mit Moosen und Beerensträuchern übersät, die sich dicht an den Boden schmiegten, um dem scharfen Wind keinen Widerstand entgegenzusetzen. Es war der reich gedeckte Sommertisch des hohen Nordens. Da, wo sich die Samen mit ihren Rentieren nicht aufhielten, fraßen sich in diesen Wochen Luchse, Füchse und Elche eine Speckschicht für den Winter an.
»Alles ist gut.« Mit einem Ruck nahm Berit ihren Halsschmuck wieder auf, ehe sie Ole ansah. »Wo warst du in den letzten Wochen?«
»Erst auf Magerøy, dann bin ich mit einem Fischerboot den Lakse-Fjord hochgefahren. Ich war bei Janus und seinem Clan.«
»Und wir haben so auf dich gewartet.«
»Wo ist Roald? Ich muss ihn sprechen.« Ole wollte wieder aufstehen, doch Berit hielt ihn an seiner Jacke zurück.
»Er ist bei den Tieren. Lass ihn seine Arbeit tun. Heute Abend kannst du ihn sprechen.« Sie stand auf und ging in ihr Lavvu , ihr Zelt aus Reisig und Rentierfellen, das sich rasch auf- und abbauen ließ. »Komm, iss und trink mit mir, die Suppe ist noch heiß. Und heute Morgen habe ich frisches Brot gebacken. Wenn die anderen gleich kommen, wollen wir feiern, dass du zurück bist.«
50
D ie Lamellengardinen vor dem Fenster waren schräg gestellt, ließen die Sonne ins Zimmer scheinen. Vor wenigen Minuten waren der Chefarzt des Krankenhauses und sein kleiner Tross hereingekommen. Dr. Eidsvag ließ es sich nicht nehmen, stets persönlich nach Andrea zu schauen. Er war nicht allzu groß, hatte graues Haar, das ehemals blond gewesen sein musste, und kluge dunkle Augen, die viel Güte ausstrahlten.
»Wie fühlst du dich?«, erkundigte sich der etwa Sechzigjährige und rückte an seiner Goldrandbrille – eine für ihn typische Geste, das hatte Andrea schon festgestellt.
»Gut, danke. Ich denke, ich kann bald wieder nach Hause.«
Er lächelte. »Hier stelle ich die Diagnosen. Aber wenn die Beschwerden abgeklungen sind, kannst du wirklich in zwei, drei Tagen entlassen werden.« Er beugte sich vor. »Lass mal die Wunde an der Schläfe sehen.« Vorsichtig löste er den Verband an Andreas linker Schläfe. »Sieht gut aus. Mit ein wenig Glück wird nicht mal eine Narbe bleiben.«
»Na, dann ist ta also tut.«
Dr. Eidsvag runzelte die Stirn. Diese plötzlichen Sprachstörungen, die Andrea gar nicht aufzufallen schienen, beunruhigten ihn. »Zur Sicherheit werde ich aber nochmals eine Röntgenaufnahme veranlassen.«
»Wozu das denn? Ich fühle gut. Sogar die Kolschmellen sind inzwischen minimal.«
»Das freut mich. Aber wir werden dennoch hundertprozentig sichergehen. Und jetzt lass mal die Wunde am Brustkorb sehen.«
Hier verlief der Heilungsprozess optimal, und der Chefarzt, der Andrea trotz der Brille immer ein bisschen an den jungen Sean Connery erinnerte, verließ das Zimmer. Dass er beunruhigt war, ließ er sich nicht anmerken. Aber ihm war nicht entgangen, dass seine Patientin recht deutliche Begriffsfindungsfehler machte. Diese Aphasie stimmte ihn besorgt, so dass er
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