Mittsommersehnsucht
Drogen hatte sie sicher nichts zu tun.«
»Dafür leg ich meine beiden Hände ins Feuer.« Haakon, der die letzten Worte gehört hatte, blieb an der Tür stehen. »Evelyn war eine ehrliche, vollkommen integere Person«, fügte er hinzu.
»Davon bin ich auch überzeugt.« Carina stellte sich vor und fragte: »Kannst du mir erzählen, was du gesehen hast?«
Haakon nickte, und er schilderte, dass er einen dunkelhaarigen Mann um die vierzig ins Haus hatte gehen sehen. »Genau kann ich allerdings nicht sagen, wer es war, denn ich stand am Küchenfenster und hab meiner Tochter einen Saft gemacht.«
»Der Galerist … könnte es Evelyns Galerist gewesen sein?«
Haakon nickte. »Beschwören will ich es nicht, aber ja … ja, er könnte es gewesen sein.«
»Denk nach! Hast du das Kennzeichen des Wagens erkannt?« Eindringlich sah die Kommissarin ihn an. »Bitte, es ist wichtig!«
»Ich weiß.« Haakon biss sich auf die Lippe. »Der Wagen kam aus Oslo«, sagte er schließlich.
»Oslo …« Carina machte sich eine Notiz, dann bat sie den jüngeren Polizisten: »Frag nach, ob dieser Galerist …« Fragend sah sie Haakon an.
»Er heißt Rheenhus. Ist gebürtiger Belgier, glaub ich.«
»Danke. Also, frag nach, ob er in Oslo gemeldet ist. Oder dort auch ein Geschäft hat. Ach ja, eins noch: Alle Straßen werden kontrolliert, alle Brücken. Und die Fähren aufs Festland erst recht. Nicht die kleinste Nussschale darf in den nächsten Stunden die Lofoten verlassen.«
Eine halbe Stunde blieb sie noch im Haus der Malerin, sah sich im Wohnbereich und in der Werkstatt um, dann erklärte sie: »Macht allein hier weiter. Ich fahre erst mal zurück ins Büro, ich muss da einiges klären, später bin ich in der Klinik. Ruft mich an, wenn ihr hier noch was herausfindet. Und macht Druck! Dieser Galerist muss gefunden werden.«
49
D as Stampfen der vielen hundert Rentierhufe war weithin zu hören, wie dumpfes Donnergrollen klang es, als die Tiere in das weitläufige Gehege getrieben wurden und dort wie verrückt im Kreis rannten. Viele brüllten vor Verzweiflung, ihre Angst war beinahe zu riechen. Die Freiheit, die sie einen kurzen, aber herrlichen Sommer lang hatten genießen dürfen, schien jäh vorbei.
Die Anzahl der Geweihe war nicht zu zählen, immer enger wurde der Kreis, es schien, als würden die Tiere in der Mitte von den Nachfolgenden erdrückt.
Gelassen sahen drei Männer der wilden Jagd zu. Sie warteten. Und sie würden noch mindestens drei Stunden so stehen und warten. So lange, bis die Tiere erschöpft waren und sie dann in Ruhe ihre Arbeit machen konnten. Jungtiere würden das Zeichen ihrer Besitzer in die Ohren geklebt bekommen. Etliche der männlichen Tiere mussten aussortiert werden, auf sie wartete der Schlachter.
Berit saß vor ihrem Lavvu und flickte eine bunte Decke. Die Sonne hatte noch Kraft, die alte Samin genoss ihre Wärme. Hin und wieder ging ihr Blick hinüber zu dem Platz am Südufer des Fjords. Dort stand der große Pferch der Rentiere, die in wenigen Tagen geschlachtet werden mussten. So war es immer am Ende des Sommers: Für etliche der Tiere war es auch das Ende ihres Lebens.
Berit schrak zusammen, als sich jemand neben sie setzte. »Ole!«
»Ja. Ich bin’s. Kann ich für eine Weile bleiben?« Der alte Mann sah müde aus. Unzählige Falten hatten sich in sein Gesicht eingegraben, erzählten von Angst und Leid, von Entbehrung und Schmerz. Seit Wochen fühlte er sich krank, das Heimweh nach der Familie quälte ihn, und immer öfter erschien ihm Kim im Traum. Sie winkte ihm fröhlich zu, schien ihn zu locken, zu sich zu rufen.
»Natürlich kannst du bleiben.« Berit legte ihm die Hand auf den Arm. »Für immer kannst du bleiben.«
»Nein …«
»Doch, Ole, du kannst heimkommen, wenn du willst. Man hat deine Unschuld herausgefunden.«
»Wer?«
»Eine junge Polizistin. Sie ist eine Freundin der deutschen Ärztin, die Kim geholfen hat.« Sie erzählte in knappen Worten von Carinas Recherchen. »Vor einigen Wochen hat sie angerufen – bei Roald. Irgendwie hat sie herausgefunden, dass er einen Computer und ein Mobiltelefon besitzt.«
»Und … was hat sie gesagt?« Ole griff mit zitternden Fingern in die Innentasche seiner Jacke und holte eine alte, handgeschnitzte Pfeife heraus. Ohne sie zu stopfen, schob er sie zwischen die Lippen.
»Dass du unschuldig bist.«
Ole atmete schwer. »Und – was noch?«
Berit legte ihre Handarbeit zur Seite. »Ich weiß es nicht. Ich weiß auch nicht, wie sie
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