Mittsommersehnsucht
Der alte Ole scheint tatsächlich unschuldig zu sein. Nein, er ist es definitiv. Ich habe die Kollegen um Akteneinsicht gebeten und gelesen, dass der Zeuge, der ihn gesehen haben will, ihn nicht genau beschreiben konnte. Einen Samen hat er gesehen, mehr nicht. Und diesen Samen hat man dann auch aufgestöbert – einen Kleinkriminellen, der sich seit Jahren in der Stadt herumtrieb und nur zufällig am Tatort war. Der dritte Täter ist nach wie vor flüchtig.«
»Und warum hat man Ole nicht informiert?« Andrea war wie elektrisiert, mit einem Schlag waren die eigenen Probleme vergessen. »Er hat schließlich ein Recht darauf zu erfahren, dass man ihn zu Unrecht beschuldigt hat.«
»Er war verschwunden. Niemand wusste, wo er sich aufhielt. Eigentlich weiß man es auch heute noch nicht. Seine Familie hatte, als man sie informierte, angeblich auch lange Zeit nichts mehr von ihm gehört.«
»Aber den Fall kann man doch nicht so einfach ad acta legen.«
»Sollte auch nicht passieren. Aber der zuständige Kriminalbeamte verstarb ganz plötzlich, sein Nachfolger hat sich wohl nicht mehr so intensiv mit der Angelegenheit beschäftigt, wie es notwendig gewesen wäre.«
»Das … das ist …«
»Das ist eine Riesensauerei. Ich weiß. Aber wir können jetzt nur eins tun, nämlich versuchen, Ole zu finden.« Carina räusperte sich. »Du, wir reden morgen oder übermorgen weiter, ja? Ich muss dringend los, unten ist gerade der Streifenwagen vorgefahren, der mich abholt. Meine erste Leiche auf den Lofoten wartet. Es ist auch noch eine Wasserleiche, ziemlich unangenehm.«
»Na dann … Danke, dass du mich noch angerufen hast.«
»Hab ich doch versprochen. Dann bis morgen, ja?«
»Ja. Bis morgen.«
»Ole ist unschuldig.« Andrea war wie verwandelt. Für eine Weile waren Enttäuschung, Wut und Trauer in den Hintergrund getreten. »Stell dir vor, der arme Mann hat sich umsonst so lange versteckt gehalten.«
»Und jetzt? Wo soll man ihn aufspüren? In diesem Land ist es relativ leicht unterzutauchen«, sagte Evelyn.
»Du hast ja recht.« Andrea trank ihre Tasse aus und stellte sich dicht vor den Kamin. »Aber so etwas darf man nicht auf sich beruhen lassen.« Sie sah Evelyn an. »Du hast ihn doch auch kennengelernt – ihn und Kim. Hast du keine Idee?«
»Komm mal mit!« Ohne darauf zu warten, ob Andrea ihr folgte, ging Evelyn Wahlstrom wieder in ihr Atelier. »Das habe ich in den letzten beiden Tagen fertig gemacht«, sagte sie leise und zog ein mit hellgrauen und kleinen roten Farbspritzern bedecktes Tuch von der Staffelei.
»Kim!« Andrea trat dichter vor die Staffelei. »Das sind Kim … und Ole.« Sie drehte sich zu Evelyn um. »Sie sehen aus, als würden sie gleich von der Leinwand steigen.«
»Das Bild zu vollenden war schwierig. Selten schwierig, offen gestanden. Irgendwas hat mich gequält, ich wusste nur nicht, was es war. Aber jetzt ist es klar …« Sie wies auf einen Schatten am linken oberen Rand des Bildes. Wie ein Schemen schwebte ein dunkelgrauer Totenschädel über der bergigen Eiswüste, die den Hintergrund des Bildes bildete. »Das ist der wahre Mörder.« Sie atmete auf. »Es ist gut, dass Ole vollständig rehabilitiert werden kann.«
»Man muss ihn nur finden und ihm sagen, dass er sich nicht länger zu verstecken braucht. Die Frage ist nur, wo man ihn suchen könnte.«
Evelyn hängte das Leinentuch wieder über die Staffelei. »Seine Verwandten wissen mit Sicherheit, wo er sich aufhält. Zumindest einige von ihnen.« Sie lächelte. »Die Clans halten zusammen, da verrät niemand den anderen. Es ist ein Familiengefüge, wie wir es gar nicht kennen.«
»Stimmt …« Andrea sah in die zuckenden Flammen. Sie dachte an die alte Schamanin. Vielleicht war es möglich, sie aufzuspüren und ihr zu sagen, was die polizeilichen Ermittlungen ergeben hatten. Die Schamanin wusste mit Sicherheit, wo Ole jetzt zu finden war.
Andrea griff zu der Kette, an der das Amulett hing, das ihr die Alte geschenkt hatte. Sie trug es immer, wenngleich sie auch nicht an eine übersinnliche Kraft des Talismans glaubte. In ihre Überlegungen hinein klingelte es stürmisch an der Haustür.
»Hilfe! Hilfe, Tante Evelyn!« Eine helle Stimme, in der Tränen mitschwangen, war zu hören.
Langsam ging Andrea zur Tür und hörte, wie Evelyn in einem Dialekt, den sie nur schwer verstehen konnte, auf ein etwa zehnjähriges Mädchen einsprach.
»Was ist passiert?«
»Kirstins Vater … er hat sich bei der Arbeit verletzt. Hast du
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